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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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sich und flüsterte ihm ins Ohr: »Du bist ein guter Mensch, Sid, und ich liebe dich.«
    Er liebte sie auch. Mehr als sein Leben. Und jetzt, als er sie ansah, wie sie im warmen Licht der Küche saß, glaubte er, das Herz würde vor Liebe zerspringen.
    Er ging ins Haus, zog im Vorraum Jacke und Stiefel aus und trat in die Küche.
    Sie blickte lächelnd auf. »Da steht Kaninchenragout auf dem Herd. Mrs Culver hat es gemacht. Sie hat auch Kekse gebacken.«
    »Hallo, mein Schatz. Wo sind die Kinder?«
    »Im Bett natürlich. Es ist nach neun.«
    »Wirklich? Ich hatte keine Ahnung.« Sid löffelte etwas Ragout auf einen Teller und erzählte ihr von Stephen.
    Er hatte den Jungen auf die Weide zu Hannibal gebracht. Der hatte, widerspenstig wie immer, die Ohren angelegt und drohend aufgestampft, als Sid sich ihm näherte, doch bevor er zu schnauben, auszuschlagen oder sonstigen Unsinn zu machen begann, hatte er Stephen gesehen. Seine Pupillen weiteten sich, und er spitzte die Ohren. Sid wusste nicht, ob Pferde Neugier empfinden konnten, aber in dem Moment sah Hannibal genauso aus – neugierig.
    Stephen hob den Blick nicht, nahm keinen direkten Kontakt mit Hannibal auf, und doch sah er ihn. Das wusste Sid, das fühlte er. Stephen nahm das Pferd auf andere Weise wahr – mit seinem Herzen, seiner Seele vielleicht. Sid hatte keine Ahnung. Er merkte nur, dass der Junge zum ersten Mal nach sechs Monaten nicht mehr zitterte.
    Hannibal trottete zum Zaun hinüber, ohne Sid zu beachten, nur Stephen im Blick. Ein paar Sekunden lang hielt Sid den Atem an, so sicher war er, dass Hannibal sein großes Maul aufmachen und das Stück Karotte von dem Jungen annehmen würde. Doch das tat er nicht. Er schnüffelte an seinem Stiefel. Wieherte und schnaubte. Dann drückte er die großen, samtigen Nüstern an Stephens Wange. Einmal, zweimal, dreimal. Bis Stephen den Kopf hob und ihn an Hannibals Hals drückte.
    Den Ausdruck auf dem Gesicht des Jungen in diesem Moment würde Sid sein ganzes Leben nicht vergessen. Diesen Ausdruck hatte er auf den Gesichtern von Männern gesehen, die Heimaturlaub hatten und ihre Frauen und Kinder umarmten, die sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatten und von denen sie geglaubt hatten, sie womöglich überhaupt nie mehr wiederzusehen.
    Stephen war zu jung, um Frau und Kinder zu haben, aber er hatte ein Pferd gehabt. Vor langer Zeit. In einem anderen, einem besseren Leben.
    So blieben sie stehen, der Junge und das Pferd, ruhig und reglos, fünf, zehn Minuten lang, bis Stephen sagte: »Er sollte jetzt in den Stall. Es ist feucht heute Nacht.«
    »Richtig. Ja. Das sollte er, Stephen. Sofort. Henry holt ihn«, antwortete Sid und bemühte sich, sich nichts anmerken zu lassen.
    »Henry führte Hannibal in den Stall«, erzählte Sid seiner Frau, »und ich brachte Stephen in sein Zimmer zurück. Ich sagte ihm, dass wir das Pferd morgen Abend wieder besuchen würden. Er erwiderte nichts darauf, aber das Zittern fing nicht wieder an.«
    »Das sind ja großartige Neuigkeiten!«, rief sie aus. »Ich freue mich wahnsinnig, das zu hören!«
    »Wir haben noch einen weiten Weg vor uns«, fügte Sid hinzu. »Aber es ist ein Anfang.« Er setzte sich zu ihr. Dabei sah er, dass ihre Augen rot waren. »Kannst du das jetzt weglegen?«, fragte er. »Und für den Rest des Abends die Medizin vergessen?«
    »Es ist nichts«, antwortete India. »Meine Augen sind bloß ein bisschen überanstrengt.«
    Sid warf einen Blick auf die Zeitschrift vor ihr. »Die Lancet , nicht wahr?«
    »Ja. Mit einem beunruhigenden Bericht über die neue Grippewelle – die Spanische Grippe. Es heißt, sie habe in Amerika schon Tausende Opfer gefordert und sei nach Europa übergeschwappt. Soldaten an allen europäischen Fronten seien schwer betroffen, und vermutlich ist sie jetzt auch schon in Schottland und einigen nördlichen englischen Städten ausgebrochen.«
    »Ist sie schlimm?«, fragte Sid zwischen zwei Bissen Ragout.
    »Ja, sehr«, antwortete India. »Sie beginnt wie eine typische Erkältung. Der Patient wird sehr krank, scheint sich zu erholen, aber dann verschlechtert sich sein Zustand. Es kann zu Blutungen aus Nase und Augen kommen, gefolgt von einer schweren Lungenentzündung. Und daran sterben die Leute schließlich auch. Aber seltsamerweise trifft es nicht die üblichen Opfer, also Babys und alte Menschen, sondern sie rafft junge, gesunde Männer und Frauen dahin. Die Vereinigten Staaten haben bereits Quarantäneanordnungen verfügt. Ich bete bloß,

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