Die Wildrose
dass es das Hospital nicht trifft. Die Männer haben doch ohnehin schon so viel durchgemacht.«
Sie klappte die Zeitschrift zu, und Sid sah, dass etwas darunter lag. Es war ein Fotoalbum von Maud, mit Kinderbildern von ihr und India.
»Du hast nicht wegen des Artikels geweint, nicht wahr, Schatz?«, fragte er ruhig.
India blickte auf das Album hinab und schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hätte es nicht herausnehmen sollen, aber ich konnte nicht anders. Heute ist – oder wäre ihr Geburtstag gewesen.«
Sid griff über den Tisch und drückte ihre Hand. »Es tut mir so leid«, sagte er. Sie nickte und erwiderte den Druck.
Er erinnerte sich, wie erschüttert India gewesen war, als der Brief mit der Todesnachricht eintraf. Sie weinte in seinen Armen und fragte schluchzend: »Warum, Sid? Warum?«, immer und immer wieder. Die Todesursache, die der Gerichtsmediziner festgestellt hatte, konnte sie nicht akzeptieren. Sie konnte einfach nicht glauben, dass Maud sich das Leben genommen hatte. Maud doch nicht! Als sie in London ankam, ging sie sofort zu dem Detective Inspector, der den Todesfall untersucht hatte – einem gewissen Arnold Barrett –, und bat ihn um die Leichenfotos. Er versuchte, es ihr auszureden, aber sie ließ sich nicht davon abbringen. Sie nahm all ihren Mut zusammen und sah die Bilder als Ärztin, nicht als Schwester an.
Mit einem Vergrößerungsglas untersuchte sie die Einstichstellen in Mauds Armbeuge. Sie stammten ganz eindeutig von einer Spritze, sahen aber ausnahmslos frisch aus.
»Ja, natürlich stammen sie von einer Spritze«, sagte Barrett. »Aber eine Spritze enthält nur eine bestimmte Menge, und sie hat sich mehrmals injiziert, um sicherzugehen, dass die Dosis tödlich ist.«
»Aber ihr Geliebter, von Brandt … hat ausgesagt, sie habe regelmäßig Morphium benutzt. Ein Süchtiger, der sich regelmäßig spritzt, hätte doch auch ältere Einstichmale. Aber es sind nur frische Einstiche zu sehen. Nirgendwo blaue Flecken. Keinerlei verkrustete Einstiche. Und außerdem, Detective Inspector, meine Schwester hasste Nadeln. Sie hasste Blut. Sie wäre fast ohnmächtig geworden bei der Abschlussfeier in meiner medizinischen Fakultät, weil sie dachte, es lagerten Leichen dort. Wie um alles in der Welt konnte sie sich dann ständig selbst Injektionen geben?«
»Die Sucht bringt ihre Opfer dazu, Dinge zu tun, zu denen weder sie sich selbst noch andere sie für fähig gehalten hätten«, antwortete Barrett. »Und hat Miss Selwyn-Jones in der Vergangenheit nicht Opiumhöhlen in Limehouse aufgesucht?«
»Zu einem früheren Zeitpunkt ihres Lebens, ja. Aber meine Schwester war nicht süchtig. Nicht zum Zeitpunkt ihres Todes. Sie wirkte auch nicht so abgemagert, wie es bei Süchtigen üblich ist. Niemand, der sie in den letzten Wochen ihres Lebens gesehen oder mit ihr gesprochen hat – außer von Brandt –, hat etwas beschrieben, was zu einer Drogenabhängigen passen würde.« India hielt einen Moment inne und fügte dann hinzu: »Ich möchte, dass Sie den Fall wieder aufnehmen, Detective Inspector. Meine Schwester hat sich nicht umgebracht. Dessen bin ich mir sicher. Was bedeutet, dass sie ermordet wurde.«
Barrett beugte sich vor und erklärte ihr mit freundlicher Stimme, dass er ihr diesen Wunsch unmöglich erfüllen könne.
»Ich fürchte, es gibt einfach nicht genügend Anhaltspunkte, um den Fall wieder aufzurollen«, erläuterte er. »Ich weiß, dass sie Ihre Schwester war und dass ihr Tod für Sie schwer hinzunehmen ist, aber wenn Sie heimgehen und nochmals darüber nachdenken, werden Sie merken, dass Ihr Verdacht … nun, ein bisschen abwegig ist.«
Daraufhin wurde India wütend.
»Hören Sie … hören Sie mir genau zu«, sagte der Inspector. »Denken Sie sorgfältig über meine Frage nach: Wer hätte Ihre Schwester ermorden sollen?«
»Wie steht’s zum Beispiel mit diesem Max von Brandt?«, fragte India.
Barrett schüttelte den Kopf. »Wenn überhaupt, dann wäre es wohl eher umgekehrt gewesen und Miss Selwyn-Jones hätte ihn umbringen wollen. Ich habe von Brandt vernommen. Gleich am nächsten Tag. Ich mache diese Arbeit seit dreißig Jahren, und ich kann Ihnen versichern, er war aufrichtig betroffen. Darüber hinaus hat er ein Alibi für die fragliche Zeit. Er wurde gesehen, wie er gemeinsam mit ihr das Hotel verließ. Der Fahrer, der die beiden zum Haus Ihrer Schwester brachte, bestätigt von Brandts Aussage eindeutig. Niemals hat Mr von Brandt versucht, irgendetwas zu vertuschen.
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