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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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verebbte. Auch Fiona, Joe und Jennie hatten ihre Gläser geleert. Sid setzte sich an den Tisch und kippte seines mit einem Schluck.
    »Gewöhnlich kann man sich darauf verlassen, dass du wieder auftauchst«, sagte Joe. »Selbst unter den widrigsten Umständen. Aber diesmal hast du sogar mich in Angst und Schrecken versetzt. Was zum Teufel ist eigentlich passiert?«
    Sid nahm die Flasche und schenkte allen nach.
    »Ich werde euch alles erzählen«, antwortete er. »Jedes kleinste Detail. Aber trinkt das zuerst aus. Sonst glaubt ihr mir nicht.«

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    E rinnerst du dich, Willa? An Mombasa? Erinnerst du dich an das türkisfarbene Meer? Und an das rosafarbene Kastell? Und an die weißen Häuser? Erinnerst du dich an unsere erste Nacht in dem Hotel? Sie hatten keine zwei Zimmer für uns. Wir mussten uns ein Bett teilen. Ich glaube, ich habe kein Auge zugetan. Ich blieb die ganze Nacht wach und lauschte deinem Atem. Du nicht. Du bist eingeschlafen und hast geschnarcht.«
    Seamie sprach schnell.
    Ich höre mich an wie ein Verrückter, dachte er. Nein, eher wie ein Händler.
    Denn er versuchte, Willa die Idee zu verkaufen, bei ihm zu bleiben. In dieser Welt. Am Leben. Er erzählte ihr von ihrer gemeinsamen Kindheit. Von Segeltouren mit Albie und ihren Eltern. Von Kletterpartien auf den Snowdon und Ben Navis. Von Wanderungen durch den Lake District. Vom Kilimandscharo und ihrer gemeinsamen Zeit in Afrika. Er erinnerte sie an die Tiere in der Steppe, die Sonnenaufgänge, den unendlich weiten Himmel. Er sagte ihr, wie sehr ihm ihre Fotos vom Everest gefielen und dass er immer noch davon träumte, eines Tages mit ihr dort hinzugehen. Er versuchte, die schönsten Erinnerungen wachzurufen und all diejenigen Dinge in ihrem fiebernden Kopf heraufzubeschwören, die sie am meisten liebte. Er versuchte, sie zu überreden, nicht loszulassen, sondern bei ihm zu bleiben.
    Sie war krank, so grauenvoll krank. Er hatte ihr Akonit und Opium gegeben. Es mit Chinin versucht. Nichts half. Nichts senkte das Fieber und linderte die Krämpfe, die ihren Körper schüttelten. Sie behielt nichts bei sich. Nicht einmal Wasser. Es war, als würde ihr geschundener Körper nach den jahrelangen Torturen, die sie ihm zugemutet hatte, den Funken auslöschen wollen, der in ihr glühte – ihren Willen, ihre Antriebskraft, ja ihre ganze Seele.
    Er erzählte ihr von der Suche nach dem Südpol und wie die heulenden Stürme der Antarktis und das unablässige Ächzen des Eises einen Mann in den Wahnsinn treiben konnten. Er erzählte ihr von einer Welt ohne Farbe, einer Welt aus Weiß, und vom unendlichen Meer der Sterne bei Nacht.
    Als ihm keine Abenteuer mehr einfielen, erzählte er ihr vom Rest seines Lebens. Von James, seinem Sohn, den er über alles liebte. Von dem kleinen Cottage in Binsey, wo der Junge geboren wurde. Von den Fehlern, die er gemacht hatte, den Dingen, die er bereute, und denen, die er nicht bereute. Er erzählte ihr von Haifa und dem Schiff, das dort auf ihn wartete, und dass er dorthin zurück müsse, sie aber nicht verlassen wolle.
    Und dann hielt er plötzlich inne und ließ den Kopf sinken. Zwei ganze Tage lang hatte er sie gepflegt, bei ihr gewacht, ihren glühenden Körper gebadet, sie festgehalten, als sie zitterte, sich übergab und vor Schmerzen aufbäumte. Seit seiner Ankunft im Lager hatte er kaum geschlafen und war inzwischen so erschöpft, dass er selbst fast phantasierte. Er hatte vom Flugzeug aus nach ihr gesucht, sie aber nirgendwo entdeckt, dann war er vom Lager aus losgeritten, und am zweiten Tag hatte er sie gefunden.
    »Bitte stirb nicht, Willa. Geh nicht«, flehte er sie an. »Lass mich nicht ohne dich in dieser Welt zurück. Allein zu wissen, dass du irgendwo auf diesem Planeten bist und etwas Kühnes und Tapferes tust, macht mich glücklich. Ich liebe dich, Willa. Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben. Und werde nie aufhören.«
    Er hob den Kopf und sah sie an, die inmitten dieser gottverlassenen Wüste, inmitten dieses gottverdammten Krieges in einem Zelt auf dem Boden lag und nur noch ein Schatten ihrer selbst war. Ja, er liebte sie, und sie liebte ihn, und ihre Liebe hatte ihnen nur Leid gebracht. War es überhaupt Liebe, fragte er sich jetzt. Oder bloß Wahnsinn?
    »Ich liebe dich auch, Seamie«, sagte Willa und schlug plötzlich die Augen auf.
    »Willa!«, rief Seamie aus und griff nach ihrer Hand. »Du bist wach?«
    Sie schluckte, verzog das Gesicht und verlangte nach Wasser. Seamie holte welches, und

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