Die Wildrose
müde.«
Katie stellte ihre Frage erneut, und Jennie versprach, die Zahlen im nächsten Monat bereitzuhaben. Katie dankte ihr und lächelte sie mitfühlend an. Sicherlich würde Katie ihre Müdigkeit auf die Angst zurückführen, die sie alle Sids wegen ausgestanden hatten.
Mit letzter Mühe zwang sie sich, zuzuhören und sich am Rest des Abends zu beteiligen, aber sie war froh, als alles vorüber war und sie nach Wapping zurückkehren konnte – zu James und ihrem Vater. Wie gewöhnlich ging sie mit Gladys Bigelow zur Haltestelle. Sie nahmen den gleichen Bus nach Osten, obwohl Jennie früher ausstieg als Gladys. Nachdem sie eingestiegen waren und sich gesetzt hatten, reichte Gladys ihr wortlos einen Umschlag, wie auch in den letzten drei Jahren.
Jennie wollte den Umschlag gerade in ihre Tasche stecken, als sie stattdessen Gladys’ Hand ergriff.
»Was ist?«, fragte Gladys mit tonloser Stimme. »Was ist los?«
»Gladys, ich muss dich etwas fragen.«
Gladys riss die Augen auf und schüttelte den Kopf. »Nein, musst du nicht.«
»Doch. Ich muss über Max Bescheid wissen.«
Gladys riss ihre Hand los.
»Ich muss es wissen, Gladys«, beharrte Jennie. »Ich muss sichergehen, dass er der ist, als den er sich ausgegeben hat. Mir hat er gesagt, er sei ein Doppelagent. Dass er hilft, die Kriegsanstrengungen der Deutschen zu sabotieren. Ich muss wissen, was in diesen Umschlägen ist.«
Gladys schüttelte den Kopf. Sie begann zu lachen, aber ihr Lachen ging schnell in Tränen über. Sie wandte sich von Jennie ab und schwieg. Während sie Gladys beobachtete, erkannte Jennie mit niederschmetternder Klarheit, dass Sid recht hatte – Max war tatsächlich ein deutscher Spion.
»Gladys«, begann sie. »Wir müssen es jemandem sagen. Wir müssen ihm das Handwerk legen.«
Gladys drehte sich um, packte Jennies Arm. »Du hältst deinen Mund«, zischte sie. »Du sagst niemandem ein Wort. Verstanden? Du kennst ihn nicht. Du weißt nicht, wozu er fähig ist. Aber glaub mir, das willst du auch gar nicht wissen.«
»Gladys, du tust mir weh! Lass mich los!«, schrie Jennie.
Aber Gladys ließ sie nicht los. Sie drückte noch fester zu. »Du gibst weiterhin diesen Umschlag ab. Wie man es von dir erwartet. Eines Tages ist der Krieg vorbei, dann können wir das alles hinter uns lassen und nie mehr ein Wort darüber verlieren, nicht einmal mehr daran denken.«
Dann stand sie auf, setzte sich von Jennie weg und starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus. So blieb sie sitzen, bis Jennie ausstieg.
Als Jennie von der Haltestelle nach Hause ging, fühlte sie sich beklommen. Sie wollte von Max nicht das Schlimmste annehmen, aber es wurde immer schwieriger, es nicht zu tun. Wenn er tatsächlich für die Deutschen arbeitete, musste sie das jemandem sagen. Das einzig Richtige, was sie tun konnte.
Aber dann fiel ihr wieder ein, was Gladys gesagt hatte: Du weißt nicht, wozu er fähig ist. Aber glaub mir, das willst du auch gar nicht wissen.
Jennie dachte an den Moment zurück, als er zu ihr ins Pfarrhaus gekommen war. Sie erinnerte sich, wie er ihr von seiner Mission berichtet und sie gebeten hatte, ihm zu helfen. Er war höflich und freundlich gewesen wie immer, doch als sie schwankte und ablehnen wollte, war sein Blick hart geworden, und er drohte, Seamie von Binsey zu erzählen.
Diese Erinnerung war jetzt wie ein Dolch in ihrem Herzen. Gerade hatte sie Josie Meadows einen Brief mit einem Foto von James geschickt. Und ihrer alten Freundin geschildert, was für ein wundervolles Kind James war, wie kräftig und gesund und wie sehr er geliebt wurde.
Sie hatte ihn an Josephine Lavallier adressiert – Josies Künstlernamen. Doch bei dem Gedanken, dass Max über Josie, über die Briefe und über James Bescheid wusste, packte sie namenlose Angst. Die Vorstellung, dass Seamie erfahren könnte, was sie getan hatte, und James eines Tages herausfände, dass sie und Seamie nicht seine leiblichen Eltern waren, war unerträglich.
Jennie kam beim Haus ihres Vaters an. Im Gang brannte Licht, aber der Rest des Hauses lag im Dunkeln. Ihr Vater und ihr Sohn schliefen schon. Ohne Mantel und Jacke auszuziehen, eilte sie direkt in die Küche.
Dort stellte sie den Wasserkessel auf, aber nicht, um Tee zu kochen, sondern um über dem Dampf den Umschlag zu öffnen.
Es war an der Zeit, ein für alle Mal herauszufinden, wer Max von Brandt wirklich war.
89
I m Licht einer kleinen Lampe saß Jennie am Küchentisch und starrte auf den braunen
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