Die Wildrose
Sam Wilson – für den sich Katie so vehement eingesetzt hatte – gewann seinen Sitz, und die Labour-Partei als Ganzes verzeichnete einen großen Stimmenzuwachs. Es war ein schwerer Kampf gewesen, und Joe und Katie waren erschöpft. Ein paar Tage Ruhe würden ihnen ebenfalls guttun.
»Komm, James, du nimmst das hier und hängst es auf«, sagte Fiona und nahm einen weiteren Anhänger aus dem Karton. »Du hast all die Burschen den Schmuck aufhängen lassen, jetzt ist es an der Zeit, dass du selbst welchen aufhängst.«
»Das ist ja ein Engel, Tante Fee.« James bewunderte die hübsche Porzellanfigur.
»Ja, das stimmt«, sagte Fiona.
»Meine Mummy ist auch ein Engel«, erwiderte der kleine Junge. »Mein Daddy auch. Sie sind jetzt im Himmel.«
Fiona hatte Mühe, ihre Stimme zu kontrollieren. »Ja, mein Liebling, das sind sie.«
Fiona beobachtete, wie James den Engel an den Baum hängte. Sie dachte daran, dass Seamie im gleichen Alter war wie James, als sie ihre Eltern verloren. Sie hatte ihn aufgezogen. Jetzt würde sie seinen Sohn aufziehen.
Nachdem James seinen Engel aufgehängt hatte, kam er zu ihr zurück und sagte: »Ich hab Hunger, Tante Fee. Stephen hat die ganzen Minzplätzchen aufgegessen.« Sprach’s und lief aus dem Gemeinschaftsraum in Richtung Küche.
»James? Komm zurück! Wo läufst du denn hin?«, rief Fiona ihm nach. »Sicher zu Mrs Culver, um ihr wieder Plätzchen abzubetteln«, sagte sie seufzend. »Charlie, Schatz, du kannst gern noch den Baum weiter schmücken, wenn du magst. Ich muss James hinterher.«
Charlie nickte.
Immer auf der Suche und immer unterwegs, unser James, dachte Fiona, als sie ihm nacheilte. Genau wie Seamie, als er klein war. Im Gegensatz zu James bezweifelte sie sehr, dass ihr Bruder im Himmel war. Der Himmel konnte ihn nicht festhalten. Er war am Südpol, am Nordpol oder auf dem Everest. Aber wo er auch sein mochte, sie hoffte, dass er endlich seinen Frieden gefunden hatte.
»Da bist du ja!«, rief sie aus, als sie ihren Neffen eingeholt hatte. Er saß auf dem Arbeitstisch der Köchin, neben Katie, die das Layout für die nächste Ausgabe des Schlachtrufs zusammensetzte und eine Tasse Tee trank. Er sah der Köchin zu, die den Teig für Fleischpasteten ausrollte. »Ich hoffe, du störst Mrs Culver nicht«, sagte Fiona zu ihm.
»Er stört überhaupt nicht«, antwortete Mrs Culver. »Ich hab ihn sehr gern bei mir, nicht wahr, kleiner Mann?«
James nickte. Sein Mund war voller Plätzchen. Mrs Culver hatte zwei weitere Platten für den Gemeinschaftsraum vorbereitet.
»Lassen Sie ihn hier, Mrs Bristow. Mir macht das nichts aus. Er kann mir beim Teigausrollen helfen.«
»Sind Sie sich sicher, Mrs Culver?«
»Absolut.«
»Also gut«, sagte Fiona. »Ich würde sehr gern den Baum fertig schmücken.« Sie strich James übers Haar, nahm die Platte mit Minzplätzchen und ging hinaus. Als sie an den Fenstern vorbeikam, blickte sie hinaus und sah einen älteren, verkniffen aussehenden Mann, der einen der Patienten begleitete.
»Wer ist das denn? Ich glaube, den habe ich noch nie gesehen.«
Katie sah von ihrer Zeitung auf und folgte Fionas Blick. »Das ist Billy Madden«, antwortete sie. » Der Billy Madden.«
Fiona starrte wie vom Donner gerührt auf ihn. »Woher weißt du das, Katie?«
»Ich verbringe viel Zeit in Limehouse. Er auch«, antwortete Katie trocken.
»Billy Madden … hier ?«, fragte Fiona. »Warum?«
Sie erinnerte sich sehr gut, dass Billy Madden ihren Bruder Sid hatte umbringen wollen.
»Er besucht seinen Sohn. Seinen jüngsten. Der Junge ist erst letzte Woche eingeliefert worden«, erklärte Mrs Culver.
»Peter Madden«, sagte Fiona. Sie hatte seinen Namen auf der Liste der ankommenden Patienten gesehen, aber nie daran gedacht, dass er Billys Sohn sein könnte.
»Ja, das ist er. Billys zwei ältere Söhne sind an der Somme gefallen, hab ich gehört. Der hier hat einen Kopfschuss. Dr. Barnes hält ihn für einen aussichtslosen Fall. Er wird nicht mehr gesund«, erläuterte Mrs Culver.
»Ich kenne Peter«, sagte James. »Er ist neu. Er ist sehr still.«
Während sie zusah, wie der Mann mit hängenden Schultern und verzweifeltem Gesichtsausdruck an der Seite seines schweigenden, dahinschlurfenden Sohns vorbeiging, empfand Fiona fast Mitleid mit ihm. Fast.
»Ich habe so schreckliche Dinge über ihn gehört«, warf Mrs Culver ein und sah ebenfalls aus dem Fenster, »aber die sind kaum zu glauben. Ich meine, sehen Sie ihn doch an … Er sieht doch
Weitere Kostenlose Bücher