Die Wildrose
und dass du dich eines Nachts fast umgebracht hättest.«
In diesem Moment begriff Willa, warum Seamie so traurig aussah. Warum James schlief. Warum nichts gepackt war. Sie begriff, was ihr Bruder getan hatte. Er hatte Seamie nichts von Madden erzählt, obwohl sie ihn inständig darum gebeten hatte. Stattdessen hatte er ihm erzählt, dass sie morphiumsüchtig und völlig durchgedreht sei und irgendwelchen Blödsinn von Verbrechern phantasiere.
»Albie hat dir also alles erzählt, was?«, fragte sie ärgerlich. »Was hat er dir denn erzählt? Dass ich süchtig bin? Also, der kann mich mal. Und du mich auch! Ich habe den Mawenzi überlebt, den Everest und Damaskus. Ich hab’s überlebt, dich zu verlieren. Immer und immer wieder. Aber jetzt hat mir ein bisschen Morphium so sehr den Verstand benebelt, dass ich Geschichten über Kriminelle und vertauschte Kinder erfinde und in strömendem Regen in Rekordzeit von Paris nach Binsey hetze, aus reiner Lust und Tollerei.«
»Was? Willa, was redest du denn da? Was für Kriminelle? Was für Kinder? Albie hat davon nichts erwähnt.«
Willa öffnete die Kiste auf ihrem Rücksitz, nahm ihre Tasche heraus und ging entschlossen an Seamie vorbei ins Haus bis zur Küche, die zugleich als Wohnzimmer diente. Seamie folgte ihr.
»Ich wollte es dir schonender beibringen, Seamie, wirklich«, sagte sie. »Ich wollte, dass du es von Albie oder von mir erfährst. Aber nachdem ich ja offensichtlich einen Sprung in der Schüssel habe, kannst du es jetzt selbst rausfinden.«
Sie zog die Briefe aus der Tasche und reichte sie ihm. »Lies schnell«, fügte sie hinzu. »Sobald du fertig bist, verschwinden wir. Und setz dich. Das wird nötig sein.«
116
S eamie nahm vage wahr, dass Willa den Brandy gefunden hatte. Sie goss zwei Gläser ein und stellte sie auf den Tisch. Dann setzte sie sich und wartete, bis er zu Ende gelesen hatte.
Etwa zwanzig Minuten später blickte er auf und sah sie unsicher an. »Willa, ich verstehe das nicht. Wer ist Josie Meadows? Woher kannte Jennie sie? Woher kennst du sie?«
»Ich habe Josie vor ein paar Monaten in Paris kennengelernt. Wir wurden Freundinnen. Sie ist im East End aufgewachsen, wo sie in Jennies Schule ging. Daher kannten sie sich. Später ist sie in Londoner Varietés aufgetreten, und dort hat sie Billy Madden kennengelernt.«
»Aber was bedeuten diese Briefe?«, fragte Seamie, obwohl er es tief in seinem Innern schon wusste.
Willa trank einen Schluck Brandy. »Sie bedeuten, dass James nicht dein Sohn ist.«
»Aber wie … Jennie hat doch ein Baby bekommen … in Binsey …«, stotterte er und hatte das Gefühl, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen.
»Jennie hat das Baby verloren. Ziemlich zu Beginn der Schwangerschaft. Sie konnte kein Kind austragen, sagte mir Josie. Dafür gab es irgendeinen Grund. Einen Un…«
»Einen Unfall«, sagte Seamie wie benommen. »Sie wurde als Kind von einer Kutsche überfahren und schwer verletzt.«
Plötzlich ergab auf niederschmetternde Weise alles Sinn für ihn. Jennies Ablehnung, während der Schwangerschaft mit ihm zu schlafen, nicht einmal berühren durfte er sie. Ihre ständigen Ausflüge nach Binsey. Das Telegramm, in dem sie mitteilte, dass sie das Baby dort bekommen habe und dass es ihnen beiden gut gehe. Mein Gott, wie konnte er so blind gewesen sein? So dumm?
»Josie sagte, Jennie habe nach der Fehlgeburt vorgetäuscht, immer noch schwanger zu sein. Josie, die tatsächlich schwanger war, hat ihr Kind – James – in Binsey zur Welt gebracht. Sie gab sich dem Arzt gegenüber als Jennie aus, damit die richtigen Namen auf die Geburtsurkunde kamen. Dann hat sie James Jennie überlassen. Er ist nicht euer Sohn.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, so meine ich das nicht. Er ist dein Sohn. Aber nicht dein Fleisch und Blut. Seine Eltern sind Josie Meadows und Billy Madden.«
Seamie erinnerte sich an den Namen. Er wusste, dass Billy Madden ein übler Schurke war und versucht hatte, Sid umzubringen. »Hat Madden von James gewusst?«, fragte er Willa.
»Er wusste nicht, dass James geboren wurde. Josie sagte, er wollte, dass sie das Kind abtreiben ließ, aber sie war nicht einverstanden damit und ist hierher nach Binsey geflohen, wo sie bis zur Geburt des Babys blieb. Dann ging sie nach Paris.«
»Aber jetzt weiß er es«, sagte Seamie.
»Ja. Irgendwie hat er herausgefunden, dass er der Vater von James ist. Und er will ihn haben. Josie behauptet, er sei verrückt geworden.
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