Die Wildrose
aber verglichen mit dem Lärm und Durcheinander, die hier herrschten, glichen seine Abenteuer einem gemütlichen Spazierung durch den Park. Er goss sich noch eine Tasse Tee ein, trank sie aus und sagte: »Croydon kann mir gestohlen bleiben. Da ist mir der Südpol doch tausendmal lieber.«
8
D er Omnibus bog in die High Street von Wapping ein. Er rumpelte über das Kopfsteinpflaster und stotterte, als er mühsam Geschwindigkeit aufnahm und um die Kurven der schmalen Durchgangsstraße des Dockgeländes fuhr.
Seamie saß auf dem Oberdeck des Busses und sah gen Himmel. Es war ein wunderbarer Tag, aber die Menschen hier bemerkten nichts davon, da die Sonnenstrahlen wegen der hohen Lagerhäuser nicht bis zu ihnen drangen. Eine steife Brise wehte den dumpfen, modrigen Geruch der Themse herüber.
Plötzlich tauchte ein Bild vor seinem geistigen Auge auf, ein flüchtiges Bild von einem gut aussehenden Mann mit schwarzem Haar und blauen Augen. Sie saßen gemeinsam auf einer Treppe am Flussufer. Er selbst war noch ganz klein, und der Mann hatte den Arm um ihn gelegt. Die Stimme des Mannes klang tief und voll, und die Musik seines Geburtslandes Irland schwang darin mit. Er nannte ihm die Namen all der Schiffe auf dem Fluss, was sie transportierten und woher sie kamen.
Und dann verblasste das Bild. Wie immer. Seamie versuchte, es zurückholen, aber es gelang ihm nicht. Er wünschte, er hätte genauere Erinnerungen an diesen Mann, seinen Vater. Er war erst vier, als sein Vater starb, und wusste nicht mehr viel aus dieser Zeit, außer dass er glücklich war, als er mit ihm am Flussufer saß. Schon damals, mit nur vier Jahren, wusste er, dass er Schiffe und Wasser liebte, wenn auch nicht annähernd so sehr wie seinen Vater.
Der Bus wurde langsamer und kam vor dem Prospect of Whitby, einem alten Gasthaus am Fluss, zum Stehen. Seamie stieg aus. Fiona hatte ihm erklärt, die Kirche von Reverend Wilcott sei auf der Watts Street, gleich nördlich des Pubs. Er hatte vor, die Wilcotts nur schnell zu begrüßen, den Scheck zu übergeben und gleich wieder aufzubrechen.
Gerade kam er von dem Besuch bei den Aldens und musste den ganzen Weg nach Westen wieder zurückfahren, um zum Dinner bei der Royal Geographical Society zu erscheinen. Er war ohnehin bereits spät dran, weil er sich bei den Aldens länger aufgehalten hatte als geplant.
Seamie war kein Arzt, aber das war auch nicht nötig, um zu erkennen, dass sich der Zustand des Admirals weiterhin verschlechterte. Sein Gesicht wirkte wächsern, und er litt große Schmerzen. Er freute sich, Seamie zu sehen, und wollte unbedingt alles über Shackletons Pläne einer neuen Antarktisexpedition hören, brauchte aber zwei Morphiumgaben in der knappen Stunde, die Seamie bei ihm war.
»Es ist Magenkrebs«, erklärte Mrs Alden unter Tränen, als er später im Salon bei ihr saß. »Wir wissen es schon eine ganze Weile, haben aber nicht viel darüber gesprochen. Wahrscheinlich hätten wir das tun sollen. Aber Albie und ich können nicht sonderlich gut über solche Dinge sprechen. Hunde und Wetter sind eher unsere Themen.«
»Weiß Willa Bescheid?«, fragte er.
Mrs Alden schüttelte den Kopf. »Wenn ja, hat sie sich nicht gemeldet. Ich habe ihr geschrieben. Albie auch. Mehrmals. Aber ich habe keine Antwort erhalten.«
»Sie wird kommen«, sagte Seamie. »Das weiß ich.«
Er richtete Fionas und Joes Grüße aus und versprach Mrs Alden, bald wieder vorbeizukommen, obwohl es ihm unerträglich war, den Admiral so leiden zu sehen, und die Fotos von Willa in Mrs Aldens Salon ihn bedrückten.
Nun versuchte er, die Traurigkeit abzuschütteln, als die Kirche von St. Nicholas in Sicht kam. Es war eine alte, hässliche Kirche, wie fast alles in Wapping. Seamie probierte zuerst die Tür am Pfarrhaus – einem rußbeschmutzten Gebäude, das direkt an die Kirche angebaut war –, aber sie war verschlossen. Dann probierte er es an der Kirchentür. Sie war offen. Er trat ein und hoffte, Reverend Wilcott dort beim Aufräumen des Altars oder Ähnlichem zu finden. Stattdessen traf er Jennie Wilcott und zwei Dutzend Kinder.
Sie waren nicht in dem Klassenzimmer, an dem er vorbeigekommen war, sondern saßen alle – manche auf Stühlen, manche auf Teekisten – um einen kleinen schwarzen Ofen in der Sakristei und lasen Wörter, die auf eine tragbare Tafel geschrieben waren. Jennie blickte beim Klang seiner Schritte überrascht auf. Auch er war überrascht – wie hübsch sie war. Sie sah so ganz
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