Die Wildrose
Zeit, sondern auch sich selbst. Er wollte nur eines – die Zuhörer sollten seine Leidenschaft für die Antarktis spüren und zumindest in der Vorstellung die Schönheit nachempfinden, die er dort gesehen hatte.
Nachdem er geendet hatte, klatschten die Kinder begeistert in ihre Hände. Seamie musste über ihre aufgeregten Gesichter lächeln. Sie stellten ihm tausend Fragen, und er tat sein Bestes, sie zu beantworten. Aber plötzlich war es vier Uhr und Zeit für sie, nach Hause zu gehen. Sie dankten ihm und baten ihn wiederzukommen. Das versprach er. Bevor sie losrannten, sagte Jennie: »Da wäre noch eine Sache, Kinder, die Mr Finnegan vergessen hat, euch zu erzählen. Weiß einer von euch, wo Mr Finnegan geboren wurde?«
Alle schüttelten den Kopf.
»Wollt ihr mal raten?«
»Im Buckingham-Palast!«
»In Blackpool!«
»Bei Harrods!«
»Er wurde im East End geboren«, sagte Jennie schließlich. »Genau wie ihr. Er hat mit seinen Geschwistern in Whitechapel gelebt.«
Ungläubiges Staunen zeichnete sich auf den Gesichtern der Kinder ab, dann folgten prüfende Blicke und scheues Kichern – alles Ausdruck einer winzigen Hoffnung in ihren Herzen.
»Es tut mir furchtbar leid, Mr Finnegan«, sagte Jennie, als die Kinder fort waren. »Ich wollte Sie nicht zur Schau stellen. Ich hatte keine Ahnung, dass Sie nur eine Spende abgeben wollten. Ich dachte, Sie seien gekommen, um zu den Kindern zu sprechen.«
»Keine Entschuldigung, bitte. Es hat mir Spaß gemacht. Wirklich.«
»Dann danke ich Ihnen. Es war sehr freundlich von Ihnen.«
»Gern geschehen, Miss Wilcott. Ich hoffe, es hat die Kinder ein bisschen unterhalten.«
»Das war mehr als eine bloße Unterhaltung«, antwortete Jennie plötzlich mit großem Nachdruck. »Sie haben ihnen Hoffnung gegeben. Ihr Leben ist sehr hart, Mr Finnegan. Äußerst hart. Alles hat sich gegen sie verschworen. Alle – die erschöpfte Mutter, der betrunkene Vater und der ausbeuterische Arbeitgeber. Sie alle sagen ihnen, dass die schönen und wunderbaren Dinge auf dieser Welt für andere bestimmt sind, nicht für sie. Sie haben diese Stimmen heute zum Schweigen gebracht. Wenn auch nur für ein paar Stunden.«
Jennie wandte sich ab, als würde sie sich für ihren Gefühlsausbruch schämen, und legte Briketts nach. »Ich weiß gar nicht, warum ich mich überhaupt mit dem Ofen abplage«, sagte sie. »Er heizt kein bisschen. Aber in unserem Klassenzimmer haben wir überhaupt keine Heizmöglichkeit.«
»Es ist Samstag, Miss Wilcott.«
»Ja«, antwortete sie und schob mit einem Schürhaken die Glut zusammen.
»Sie unterrichten am Samstag?«
»Ja, natürlich. Die meisten Fabriken und Lagerhäuser sind am Samstagnachmittag geschlossen, also haben die Kinder Zeit herzukommen.«
»Gehen die Kinder denn nicht regelmäßig zur Schule?«
»Theoretisch schon«, antwortete Jennie und schloss die Ofentür.
»Theoretisch?«
»Die Familien müssen essen, Mr Finnegan. Ihre Miete bezahlen. Kohlen kaufen. Kinder können in den Fabriken Akkord arbeiten. Stroh in Matratzen stopfen. Böden schrubben.« Mit einem ironischen Lächeln fügte sie hinzu: »Wenn man mit dem Lohn eines Kindes ein Pfund Wurst kaufen kann, zählt das mehr als mathematische Gleichungen und Gedichte von Tennyson.«
Seamie lachte. Jennie nahm ihren Mantel von einem Haken, schlüpfte hinein und setzte ihren Hut auf. Als sie ihre Lederhandschuhe anzog, sah Seamie, dass sich eine lange, verblasste Narbe über ihren Handrücken zog. Er fragte sich, woher die stammte, fand es aber zu unhöflich, danach zu fragen.
»Ich gehe auf den Markt«, sagte sie und nahm einen Weidenkorb. »Samstagabends ist immer einer in der Cable Street.«
Seamie erklärte, dass er auch dorthin müsse. Was natürlich nicht stimmte. Jedenfalls bis jetzt nicht. Sie verließen die Kirche, ohne die Türen abzusperren.
»Haben Sie keine Angst, ausgeraubt zu werden?«, fragte er.
»Doch. Aber mein Vater ängstigt sich mehr um die Seelen der Menschen. Also lassen wir die Türen offen.«
Sie schlugen die Richtung gen Norden ein.
»Ihr Leben muss so aufregend sein, Mr Finnegan«, sagte Jennie.
»Nennen Sie mich Seamie, bitte.«
»Also gut. Dann müssen Sie mich Jennie nennen. Wie gesagt, Ihr Leben ist wirklich erstaunlich. Was für unglaubliche Abenteuer Sie bestanden haben müssen.«
»Meinen Sie? Vielleicht sollten Sie auch auf Entdeckungsreise gehen.«
»O nein. Bestimmt nicht. Ich kann Kälte nicht ertragen. Ich würde es keine zwei Sekunden am
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