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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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anders aus als bei ihrer ersten Begegnung. Ihr Auge war nicht mehr geschwollen, die blauen Flecken darum waren verblasst. Ihr blondes Haar war ordentlich zu einem Knoten gesteckt. Ihre Kleider, eine weiße Baumwollbluse und ein blauer Leinenrock, waren sauber und betonten ihre schmale Taille.
    Sie ist mehr als nur hübsch, dachte er. Sie ist schön.
    »Hallo, Miss Wilcott«, sagte er. »Ich bin Seamus Finnegan. Fiona Bristows Bruder. Wir haben uns vor ein paar Wochen kennengelernt. Im … ähm … im Gefängnis.«
    Jennie Wilcotts Gesicht leuchtete auf. »Ja natürlich! Was für eine Freude, Sie wiederzusehen, Mr Finnegan!«
    »Teufel noch mal, sind Sie schon wieder eingebuchtet worden, Miss?«, fragte ein kleiner Junge.
    »Ja, Dennis, das stimmt.«
    »Sie sind ja öfter im Knast als mein Dad, Miss!«, meinte ein Mädchen.
    »Findest du? Na ja, könnte sein. Glücklicherweise hat mir beim letzten Mal Mr Finnegan geholfen, wieder rauszukommen. Kinder, wisst ihr, wer Mr Finnegan ist?«
    »Nein, Miss«, antworteten vierundzwanzig Stimmen im Chor.
    »Dann werde ich es euch sagen. Er ist einer der Helden unseres Landes – vor euch steht ein echter Entdecker!«
    Ungläubige Rufe wurden laut.
    »Doch, das stimmt. Er hat Mr Amundsen auf der Expedition zum Südpol begleitet, und jetzt ist er hier, um euch alles darüber zu erzählen. Er hat mir versprochen, dass er kommen würde, und da ist er!«
    Jennies Stimme klang aufgeregt, und ihre Augen leuchteten, als sie auf die Kinder um sich blickte.
    Seamie hatte sein Versprechen völlig vergessen. »Eigentlich, Miss Wilcott, bin ich gekommen, um Ihnen das hier zu geben«, sagte er und zog den Umschlag aus der Brusttasche. »Es ist von Fiona und Joe. Eine Spende.«
    »Oh, ich verstehe«, erwiderte Jennie enttäuscht. »Entschuldigen Sie, Mr Finnegan, ich dachte …«
    Vierundzwanzig Kinder machten plötzlich lange Gesichter.
    »Er wird uns nichts erzählen, Miss?«, fragte ein Junge.
    »Er bleibt nicht, Miss?«
    »Erzählt uns nichts über Tarktis?«
    »Ruhig, Kinder. Mr Finnegan ist sehr beschäftigt …«
    »Natürlich bleibe ich«, versicherte Seamie hastig, weil er die Enttäuschung auf den Gesichtern der Kinder – und auf Jennies Gesicht – nicht ertrug.
    Schnell steckte er den Umschlag wieder ein und setzte sich zu den Kleinen. Ein Junge bot ihm seinen Stuhl nahe dem Ofen an, aber Seamie lehnte ab. Das Kind war für einen Märztag ohnehin viel zu dürftig gekleidet. Und dann fing er an, von seiner ersten Expedition zu erzählen.
    Eines Abends hatte er die Royal Geographical Society aufgesucht, um einen Vortrag von Ernest Shackleton über seine bevorstehende Reise in die Antarktis und die Suche nach dem Südpol zu hören. Er war so beeindruckt von Shackleton und derart entschlossen, an der Expedition teilzunehmen, dass er ihm nach Hause folgte und dreiunddreißig Stunden vor seinem Haus wartete. Ohne sich von der Stelle zu rühren, ohne aufzugeben, als es Nacht wurde und zu regnen anfing, bis Shackleton ihn nach drinnen bat. Dem Entdecker imponierten seine Begeisterung und sein Durchhaltevermögen, sodass er ihn schließlich mitnahm.
    Die Kinder machten große Augen, als Seamie ihnen berichtete, wie es war, im Alter von siebzehn Jahren zum Südpol zu fahren. Er beschrieb ihnen die endlose See, den weiten Nachthimmel, die peitschenden Stürme und das Leben an Bord der Discovery – Shackletons Schiff. Die harte Arbeit, die Disziplin und die Mühsal, mit so vielen Männern auf so engem Raum zusammengepfercht zu sein. Er erzählte ihnen auch von der letzten Reise zum Südpol mit Amundsen. Wie es sich anfühlte, als die Luft immer kälter wurde und Eisschollen im Wasser trieben. Von Seehunden, Pinguinen und Walen beobachtet zu werden. Bei minus zwanzig Grad zu arbeiten, ein Lager aufzuschlagen, Schlittenhunde einzuspannen, Messungen vorzunehmen, über heimtückisches Packeis zu wandern, den Körper bis an die äußerste Grenze seiner Leistungsfähigkeit zu treiben, obwohl allein das Atmen wehtat.
    Und er erklärte ihnen, dass es sich lohnte. Die lange Reise, die Einsamkeit, das schlechte Essen, die schreckliche Kälte – dass es jede Sekunde des Leidens und Zweifels wert gewesen sei, einfach dort zu stehen, wo vorher noch niemand gestanden hatte, in einer unberührten Wildnis aus Eis und Schnee. Der Erste gewesen zu sein.
    Er redete fast zwei Stunden und bemerkte nicht, wie die Zeit verging. So ging es ihm immer, wenn er über die Antarktis sprach. Er vergaß nicht nur die

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