Die Wildrose
»Sagten Sie, Sie seien Junggeselle, mein Lieber? Jetzt wissen Sie, warum!«
»Lassen Sie mich wenigstens den Tisch decken«, bat Seamie kleinlaut, um die Sache wieder gutzumachen.
»Das wäre nett. Die Futterschüsseln sind über der Spüle«, entgegnete Jennie.
Sie neckte Seamie noch ein bisschen und servierte dann das Abendessen – einen Lancashire-Eintopf mit Lamm, Kartoffeln und Zwiebeln, dazu gab es braunes Brot mit frischer Butter. Während der Reverend den Segen sprach, hielt Seamie den Kopf gesenkt. Er wusste, auch er hätte die Augen schließen sollen, aber stattdessen sah er Jennie an. Ihr Gesicht war von der Hitze am Herd gerötet, und ihr Haar schimmerte im Schein golden. Nachdem der Reverend geendet hatte, öffnete sie die Augen und bemerkte, dass er sie anstarrte. Aber sie wandte den Blick nicht ab.
»Es schmeckt köstlich«, sagte er nach den ersten Bissen. »Ehrlich.«
Jennie dankte ihm, und Seamie stellte fest, dass es ihn außer nach einer Mahlzeit auch nach etwas anderem hungerte. Nach der Wärme und Ungezwungenheit nämlich, die er in dieser Küche verspürte.
Jennie hatte etwas an sich – etwas Anmutiges und Tröstliches. Er fühlte sich in ihrer Gegenwart aufgehoben. Beruhigt. Nicht nervös und flatterig. Nicht wütend, traurig und verzweifelt, wie er sich stets fühlte, wenn er an Willa Alden dachte.
Ihm gefiel das Heim, das sie für sich und ihren Vater geschaffen hatte. Er mochte das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims, den Geruch nach Möbelpolitur und das gestärkte Tischtuch. Zu seiner großen Überraschung stellte er fest, dass er sich wünschte, er hätte dies auch – ein Zuhause, ein richtiges Zuhause.
Nachdem Seamie und die Wilcotts ihr Mahl beendet hatten – als Nachtisch gab es Apple Crumble mit Sahne –, verkündete der Reverend, er werde nun jedem ein Glas Sherry einschenken. Seamie erwiderte, dass er vorher den Abwasch machen werde, und zwang Jennie mit viel Mühe, sich ans Feuer zu setzen. Dann krempelte er die Ärmel hoch und legte los.
Nach dem Abwasch tranken er und die Wilcotts den angekündigten Sherry, und als die Uhr acht schlug, meinte Seamie, er müsse sich auf den Weg machen. Aber eigentlich wollte er nicht gehen. Er wollte nicht allein in die dunkle, kalte Nacht hinaus und über den Fluss zum Haus seiner Schwester, in das leere Zimmer und das leere Bett, das ihn dort erwartete.
»Vielen Dank«, sagte er zu den Wilcotts, als er sich verabschiedete. »Für das Essen und die Gesellschaft. Ich habe beides überaus genossen.«
Jennie und der Reverend brachten ihn zur Tür. Er hatte gerade den Hut aufgesetzt und das Jackett zugeknöpft, als etwas in seiner Brusttasche knisterte.
»Ach, der Scheck!«, sagte er lachend, denn den hatte er vollkommen vergessen. Er übergab ihn Jennie mit dem Hinweis, er sei für ihre Schule. Sie bedankte sich und fügte hinzu, dass sie sich deshalb noch persönlich bei Fiona melden würde.
»Sie kommen uns doch bald mal wieder besuchen, mein Junge?«, fragte der Reverend, der ihn bis zur Treppe hinausbrachte.
Und Seamie, der noch am Morgen so ärgerlich reagiert hatte, als Fiona ihn bat, den Umweg hierherzumachen, erwiderte: »Ja, Reverend Wilcott. Das werde ich. Sehr bald sogar.«
9
M ax von Brandt sah auf seine Uhr. Fünf nach acht. Der Bus, auf den er wartete, müsste jeden Moment eintreffen. Um sicherzugehen, dass er ihn nicht verpasste, wartete er bereits seit einer Viertelstunde unter dem Vordach eines Tabakgeschäfts auf der Whitechapel Road auf ihn.
Ein Frösteln kroch ihm den Rücken hinauf, und er zog die Schultern hoch. Er hasste das scheußliche englische Wetter, war aber froh, dass es regnete, weil es seinen Zwecken dienlich war.
Ein paar Meter von ihm entfernt warf eine zischende Gaslaterne ihr trübes Licht auf das schwarze Pflaster, die schäbigen Ladenfronten und rußigen Häuser. Nirgendwo gab es einen Blumentopf, keine Grünfläche und kein hübsches Café. Wenn er je die Absicht hätte, Selbstmord zu begehen, dachte er, dann hier in Whitechapel. Es war geradezu gemacht dafür.
Max trug heute Abend nicht seine übliche Aufmachung – einen perfekten Maßanzug mit blütenweißem Hemd und Seidenkrawatte –, sondern eine Seemannsjacke, eine Mütze, Leinenhosen, schwere Stiefel und eine Brille mit Drahtgestell und ungeschliffenen Gläsern.
Eine weitere Minute verging. Dann zwei. Und dann hörte er das Knattern eines Omnibusmotors. Das Geräusch wurde lauter, als der Bus um eine Ecke bog. Mit
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