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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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brummendem Motor hielt der Fahrer an der Haltestelle auf der anderen Straßenseite an und wartete, bis eine Handvoll Fahrgäste ausgestiegen war. Max beobachtete sie dabei, inspizierte ihre Gesichter.
    Da ist sie, dachte er, als der letzte Fahrgast – eine junge Frau – auf die Straße trat. Sie hatte ein reizloses, rundes Gesicht und dunkles, welliges Haar. Ihre Augen wirkten hinter der Brille klein, ihre Zähne groß und hasenartig. Während er sie ansah, wusste er, dass sein Plan gelingen würde. Dass es tatsächlich ein Kinderspiel sein würde. Dieses Wissen löste ein tiefes und schmerzliches Gefühl von Bedauern bei ihm aus. Aber er verscheuchte es schnell wieder. Er konnte es sich nicht leisten, seinen Gefühlen nachzugeben. Es gab Arbeit, ein weiteres Glied der Kette musste geschmiedet werden.
    Er wartete. Bis sie auf dem Gehsteig war und mit ihrem Regenschirm kämpfte. Bis der Schaffner die Glocke zur Weiterfahrt geläutet hatte. Bis der Bus, schwarze Abgase auspustend, abgefahren war. Dann überquerte er die Straße und ging mit gesenktem Kopf, die Hände in den Taschen, auf sie zu.
    Er wusste, sie würde in seine Richtung kommen. Von einem Fenster aus hoch über der Straße hatte er beobachtet, dass sie an vier aufeinanderfolgenden Abenden jedes Mal denselben Weg eingeschlagen hatte. Den Kopf noch immer gesenkt, hörte er ihre Schritte immer näher und näher kommen. Er wartete, bis er sie spüren, bis er sie riechen konnte. Noch nicht, sagte er sich … noch nicht … warte … jetzt.
    Mit einer raschen, fließenden Bewegung rammte er sie an der Schulter, schlug ihr dabei die Mappe aus den Armen und die Brille von der Nase.
    »Verflucht!«, rief er mit einwandfreiem Yorkshire-Akzent aus und beugte sich schnell hinunter, um ihre Sachen aufzuheben. »Es tut mir leid. Ich habe Sie nicht gesehen. Alles in Ordnung mit Ihnen?«
    »Ich … denke schon«, antwortete sie blinzelnd. »Sehen Sie irgendwo meine Brille?«
    »Hier«, erwiderte er und reichte sie ihr.
    Sie setzte sie zitternd wieder auf und nahm ihre Mappe entgegen.
    »Es tut mir aufrichtig leid. Ich bin wirklich ein elender Trottel. Es tut mir furchtbar leid«, entschuldigte er sich.
    »Ist schon gut, wirklich«, erwiderte die Frau.
    »Ich habe mich, glaube ich, verlaufen. Ich komme aus Wapping. Mein Schiff hat erst vor einer Stunde angelegt, und ich suche nach einer Pension namens Duffin’s.«
    »Oh, ich kenne das Duffin’s. Es ist gleich hier runter«, sagte die Frau und deutete nach Osten. »Zwei Straßen weiter. Auf der linken Seite. Aber das Duffin’s ist teuer, wissen Sie. Es wäre vielleicht günstiger für Sie, auf der anderen Seite vom Fluss eine Pension zu suchen.«
    Max schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie dort je in einer gewohnt haben, Miss. Sie sind schrecklich, nicht besser als Absteigen. Ich habe ein paar Tage frei, bis mein Schiff wieder ablegt, und ich möchte an einem anständigen Ort wohnen. In der Nähe einer Kirche.«
    Er bemerkte, wie sie die Augen aufriss.
    »Es tut mir immer noch sehr leid, dass ich Sie angerempelt habe. Könnte ich das vielleicht wieder gutmachen? Indem ich Sie zu einer Tasse Tee in einer netten Teestube einlade? Gibt’s hier in der Nähe so etwas?«
    »Nein, jetzt ist alles schon geschlossen«, antwortete die Frau und biss sich auf die Lippe.
    Der Regen wurde heftiger. Perfekt, dachte Max. Er schlug seinen Kragen hoch und zitterte deutlich.
    »Hier …«, sagte sie und hielt den Schirm über sie beide.
    Max sah sich demonstrativ um. »Da ist ein Pub. Würden Sie mich dorthin begleiten?«
    Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Ich pflege nicht in Pubs zu gehen.«
    »Vielleicht gibt es einen Bereich für Damen dort«, sagte Max hoffnungsvoll.
    Die Frau zögerte immer noch, aber ihre Augen wirkten traurig. Sie war einsam, hatte er Jennie Wilcotts Worten entnommen, als sie damals vor dem Gefängnis von Holloway auf die Kutschen warteten. Eine alleinstehende Frau mit einer kranken Mutter, die eine Strickgruppe und Versammlungen mit Frauenrechtlerinnen besuchte. Sie sehnte sich verzweifelt nach der Gesellschaft eines Mannes. Das sah er. Das konnte jeder sehen.
    »Na schön. Ich will Sie nicht länger aufhalten.« Er tippte an den Rand seiner Mütze. »Gute Nacht, Miss.«
    »Vielleicht auf ein Getränk«, sagte sie plötzlich. »Eine Limonade oder so was. Meine Mutter wartet auf mich. Aber ich glaube nicht, dass sie sich schon Sorgen macht. Noch nicht. Es passiert häufiger, dass

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