Die Wildrose
brachte sie an den Tisch. Der Lama nahm sie entgegen, trank einen Schluck und lächelte. Jingpa verbeugte sich.
»Was führt Sie her, Rinpoche ?«, fragte Willa.
»Eine Gruppe von Männern, Händler aus Nepal, ist gerade auf dem Weg nach Lhasa über den Pass gekommen. Sie bleiben über Nacht im Dorf. Unter ihnen ist einer – ein westlicher Ausländer –, der nach dir gefragt hat«, antwortete der Lama.
Willa spürte, wie ihr Herz einen Sprung machte. Einen kurzen, wahnsinnigen Moment lang hoffte sie, er sei es – Seamus Finnegan –, der es auf der Suche nach ihr irgendwie hierhergeschafft hatte. Dann schalt sie sich innerlich für ihre Dummheit. Seamie wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben. Warum auch? Sie hatte ihn verlassen, ihm gesagt, er müsse sein Leben ohne sie weiterführen.
»Sein Name ist Villiers. Ein Franzose, glaube ich«, fuhr der Lama fort. »Ein Häretiker wie du. Entschlossen zu bezwingen, was nicht bezwungen werden kann, unseren heiligen Berg. Er will dich als Führerin anheuern. Soll ich ihm sagen, wo er dich finden kann? Und deine Seele gefährden. Oder soll ich ihm sagen, dass es keine solche Person in Rongbuk gibt, und dich damit Buddha näherbringen?«
»Ich danke Ihnen für Ihre Sorge, Rinpoche , und obwohl sich meine Seele nach Transzendenz sehnt, sehnt sich mein Körper nach Sampa, Po cha und einem warmen Feuer in der Nacht. Ich brauche das Geld, das ich als Führerin verdiene, um mir all dies zu kaufen, also werde ich Ihren Franzosen jetzt gleich treffen – und den Buddha noch nicht so schnell, aber bald.«
»Bald. Immer nur bald. Nie jetzt«, seufzte der Lama. »Ganz wie du willst, Willa Alden.«
Der Lama trank schnell seinen Tee aus und schickte sich an, zum Kloster zurückzukehren.
»Würden Sie dem Mann sagen, dass er zu meiner Hütte kommen soll, Rinpoche ?«, fragte Willa, als er seine Handschuhe anzog.
Der Lama versprach es. Willa dankte ihm und bat Jingpa, den Tonkrug mit heißem Chang zu füllen und mit einem Teller zuzudecken. Sie wusste, der Franzose würde ihn brauchen nach dem Treck über den Pass. Sie zog ihren Mantel an, bezahlte Jingpa und nahm den Krug mit. Auf dem Heimweg durchs Dorf drückte sie ihn an sich, damit er nicht kalt wurde.
Als sie am Kloster vorbeikam, roch sie den intensiven Duft des Räucherwerks, der unter der Tür und durch die Ritzen der Fensterläden nach draußen drang. Im geisterhaften Heulen des Winds konnte sie das Singen der Mönche hören, deren kräftige Stimmen durch die Klostermauern klangen. Sie liebte diese Gesänge und war tief bewegt von ihnen. Sie klangen älter als die Zeit, als würde der Berg selbst singen.
Willa blieb einen Moment stehen und lauschte. Sie war schon oft im Innern des Tempels gewesen und wusste, dass die Mönche mit geschlossenen Augen und nach oben gekehrten Handflächen zu Buddhas Füßen saßen. Und dass der Buddha auf sie hinabblickte und sein Gesicht vor Güte und Heiterkeit strahlte.
Jetzt fielen ihr die Worte des Lama wieder ein und wie sehr er sich wünschte, dass sie den buddhistischen Weg einschlüge. Sich von ihren Begierden löste und sie überwand.
Er meinte es gut mit ihr, aber was er verlangte, war ungefähr so, als bäte er sie, den Drang zu atmen aufzugeben. Das konnte sie einfach nicht. Denn genau das, ihre Begierden, ihr Tatendrang, hielten sie am Leben. Deshalb stand sie am Morgen bei zwanzig Grad unter null auf. Deshalb trieb sie sich zur Arbeit an, zum Fotografieren und zur Suche nach einer Route auf den Gipfel, obwohl sie durch den Verlust ihres Beins behindert war. Nur deshalb blieb sie Jahr um Jahr hier, obwohl sie einsam war und sich oft nach ihrer Familie sehnte. Den Everest nicht bezwingen zu wollen, nicht so viel wie möglich über diesen majestätischen Berg herausfinden zu wollen war einfach unvorstellbar für sie. All das aufzugeben wäre ihr Tod gewesen.
Der Lama nannte sie und all jene, die nach Rongbuk kamen, um den Everest zu besteigen, Häretiker. Der Berg sei heilig, sagte er, und dürfe von Menschen nicht betreten werden. Doch er war freundlich, und obwohl er Willa und die anderen Ausländer zu bekehren versuchte, erlaubte er ihnen trotzdem, im Dorf zu bleiben. Er kümmerte sich darum, dass sie versorgt wurden und dass man für ihre Bekehrung zu Buddha betete.
Willa war davon überzeugt, dass der Lama schon viele Gebetsketten abgenutzt hatte, um für sie zu beten, und daran würde sich auch in Zukunft vermutlich nichts ändern. Sie setzte den Weg zu ihrer
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