Die Wildrose
Hütte fort und empfand ziemlichen Widerwillen, den Fremden zu treffen, der dort auf sie wartete. Doch sie brauchte das Geld – für Nahrung und Ausrüstung, wie sie dem Lama gesagt hatte, aber auch für Opium. Ihr Bein plagte sie schrecklich. Ihr Opiumvorrat ging zur Neige, und sie musste sich Nachschub besorgen von den Händlern, die in Rongbuk eingetroffen waren, falls sie überhaupt welches dabeihatten.
Willa brauchte zwar immer Geld, doch im Moment sehnte sie sich mehr nach Einsamkeit als nach zahlungswilligen Besuchern. Denn sie stellte gerade die Fotos und Karten der von ihr gefundenen Route auf den Everest fertig, und diese Route musste geheim bleiben. Sie wollte nicht, dass jemand – und ganz bestimmt nicht dieser Villiers – nach Europa zurückfuhr und ihre Entdeckung als seine eigene ausgab.
Hoffentlich würde er ihr nicht zu viele Umstände machen. Wahrscheinlich war er wochenlang unterwegs gewesen und brauchte erst einmal ein paar Tage Rast, um sich von den Anstrengungen zu erholen. Das würde ihr genügend Zeit lassen, um ihre Klettertouren zu machen, ihre Aufzeichnungen abzuschließen und ihre Erkenntnisse niederzuschreiben. Dann müsste sie die Papiere an Clements Markham schicken, was bedeutete, sie der ersten Händlergruppe mitzugeben, die nach Indien zog und den Umschlag beim britischen Postamt in Darjeeling aufgab.
Als Willa sich ihrer kleinen Hütte am Ostrand des Dorfes näherte, sah sie den Fremden an ihrer Tür stehen. Er stampfte mit den Füßen auf und klatschte in die Hände, um sich warm zu halten. Als sie näher kam, bemerkte sie, wie ausgemergelt er war und wie sehr er zitterte. Seine Lippen waren aufgedunsen und blau. Um Nase und Kinn waren weiße Flecken.
»Miss Alden?«, rief er.
»Mr Villiers, nehme ich an«, antwortete sie.
»Ja. M-Maurice Villiers. Aus Frankreich. Ich … ich bin Bergsteiger, Miss Alden, und h-habe gehört, dass Sie mit der Nordflanke des Everest vertraut sind. Ich s-suche einen Führer und wollte wissen, ob Sie …«
Willa lachte. Der Mann zitterte so stark, dass er kaum ein Wort herausbekam. »Sagen Sie nichts mehr, und kommen Sie rein«, erwiderte sie. »Bevor Sie tot umfallen.«
Sie öffnete die Tür und schob ihn kopfschüttelnd in die Hütte. Sie sah die Europäer inzwischen mit tibetischen Augen. Dieser Mann würde noch auf Formalitäten und Höflichkeitsfloskeln bestehen, auch wenn er schon halb erfroren war.
»Setzen Sie sich. Dorthin.« Sie deutete auf einen Stuhl beim Herd. Er gehorchte, legte aber zuerst sein Gepäck ab, während sich Willa um den Ofen kümmerte. Sie zündete das vorbereitete Feuer und dann die Lampe an. Dann nahm sie ihrem Gast die Mütze ab und inspizierte seine Ohren, seine Wangen und sein Kinn. Als Nächstes zog sie ihm die Handschuhe aus und untersuchte seine blauen, geschwollenen Hände.
»Sieht schlimmer aus, als es ist. Sie werden keine Finger verlieren«, sagte sie und schenkte ihm eine Tasse von Jingpas noch dampfendem Tee ein. Er nahm sie dankbar entgegen, trank sie schnell aus und bat um mehr.
»Gleich«, sagte Willa. »Zuerst wollen wir Ihre Zehen anschauen.«
Die Wärme hatte seine gefrorenen Schuhbänder aufgetaut. Sie schnürte sie auf und zog ihm die Stiefel aus. Er protestierte nicht. Weder als seine Stiefel ausgezogen wurden noch als sich seine Socken nicht abstreifen ließen, weil sie an den geschwollenen, schwarz verfärbten Zehen festgefroren waren. Sie wartete, bis auch die Socken aufgetaut waren, und rollte sie dann vorsichtig herunter.
»Wie schlimm ist es?«, fragte er, ohne hinzusehen.
»Ich weiß nicht. Das müssen wir abwarten.«
»Werde ich meine Zehen verlieren?«
»Einen oder zwei.«
Er fluchte und bekam einen Wutanfall. Willa wartete, bis er sich wieder beruhigt hatte, dann gab sie ihm eine Schale Sampa. Er zitterte immer noch krampfartig, auch nachdem er gegessen hatte, was ihr große Sorgen machte. Schnell zog sie ihm den Mantel und die Kleider aus. Seine Unterwäsche war klatschnass. Sie nahm eine Schere und schnitt die Beine seiner Unterhose ab, um sie langsam über seine Füße zu ziehen. Er wollte dies nicht zulassen, aber sie zwang ihn.
»Sie ist nass«, sagte sie. »Sie können sich nicht in nasser Unterwäsche in mein Bett legen. Hier, ziehen Sie die an. Ich sehe nicht hin«, fügte sie hinzu, reichte ihm eine Tunika und eine Pluderhose und drehte sich um. Nachdem er sich umgezogen hatte, wickelte sie ihn in einen Wollmantel und half ihm, zum Bett zu humpeln, auf dem
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