Die Wildrose
sein. Er wollte ihr sagen, dass er selbst gern wüsste, ob er gehen oder bleiben sollte. Er wollte ihr sagen, dass er sie liebte, so gut er es eben konnte. Er wollte sie bitten, ja sie anflehen, ihn irgendwie dazu zu bringen, sie mehr zu lieben. Genügend jedenfalls, um Willa Alden zu vergessen. Aber er wusste nicht, wie er das sagen sollte, ohne sie zu verletzen. Er versuchte es. Er stotterte und stammelte herum, bis sie ihn schließlich unterbrach.
»Scht«, sagte sie und legte einen Finger auf seine Lippen. »Es ist alles gut, Seamie.«
»Bitte sei nicht traurig«, erwiderte er. »Ich ertrage es nicht, dich traurig zu sehen.«
Sie schüttelte den Kopf und küsste ihn. »Ich bin nicht traurig. Überhaupt nicht. Ich bin glücklich. Sehr glücklich sogar. Es ist alles, was ich will, und mehr, als ich mir je erhofft hatte.«
Ihre Worte verblüfften ihn. Wie konnte eine so schöne, gute und kluge Frau wie Jennie nur einen Moment lang glauben, die Liebe eines Mannes sei mehr, als sie sich je erhofft hatte? Jennie Wilcott hätte an jedem Finger zehn Männer haben können, und jeder wäre überglücklich gewesen, wenn sie sich für ihn entschieden hätte. Warum um alles in der Welt liebte er sie nicht so, wie er Willa geliebt hatte? Warum kam er nicht über die Frau hinweg, die ihm das Herz gebrochen hatte? Was stimmte nicht mit ihm?
Diese Fragen quälten Seamie. Er wollte aufstehen, sich anziehen und durch den Regen laufen. Er wollte so lange laufen, bis sein Ärger über sich selbst und seine Verzweiflung verflogen waren. Bis er die Antwort wusste.
Aber Jennie ließ ihn nicht fort. Sie küsste ihn sanft und zog ihn abermals zu sich hinunter.
»Es ist alles gut«, sagte sie wieder.
Und in ihren Armen, für ein paar wunderbare Stunden, war es das auch.
17
A h! Da ist sie ja! Meine grünäugige Häretikerin!«
Willa lächelte. Sie stand auf und verbeugte sich vor dem Mann, der gerade in die einzige Gaststube von Rongbuk getreten war – eine Ecke im Yakstall eines geschäftstüchtigen Dorfbewohners.
»Namaste, Rinpoche«, begrüßte sie ihn zuerst, wie es die Tradition erforderte, weil er der Ältere und ein Lama war. Sie sprach ihn auch nicht mit seinem Namen, sondern mit dem Ehrentitel Rinpoche , »Kostbarer«, an.
» Namaste , Willa Alden«, antwortete der Lama. »Ich hätte wissen sollen, dass ich dich bei Jingpa finden würde. Habe ich dir nicht schon oft gesagt, dass Alkohol den Weg zur Erleuchtung verdunkelt?« In den Worten lag Tadel, aber sein Blick war freundlich.
Willa hob die Bambustasse in ihrer Hand. Sie war mit Chang gefüllt, einem bierartigen Getränk, das aus Gerste hergestellt wurde. »Ah, Rinpoche , ich habe mich geirrt!«, erwiderte sie. »Ich dachte, Jingpas Chang sei der Weg zur Erleuchtung.«
Der Lama lachte. Er zog einen niedrigen Schemel an Willas Tisch – ein Brett, das nahe am Feuer über zwei Teekisten gelegt war. Dann legte er seine Schaffellmütze und Handschuhe ab und knöpfte seinen Mantel auf. Die Nacht war eisig kalt, und draußen heulte der Wind, aber in Jingpas steinernem Stall war es trotzdem behaglich warm.
»Möchten Sie einen Schluck von einem heißen Getränk, Rinpoche ?«, fragte Willa. »Die Nacht ist kalt, und der Körper verlangt nach Wärme.«
»Mein Körper verlangt wenig, Willa Alden. Ich habe meine Wünsche bezwungen, denn Wünsche sind der Feind der Erleuchtung.«
Willa unterdrückte ein Lächeln. Es war ein Spiel, das sie und dieser listige alte Mann spielten. Er war der spirituelle Führer des Dorfes, der Leiter des buddhistischen Klosters von Rongbuk, und durfte nicht gesehen werden, wie er sich in einem Gasthaus vergnügte. Morgen würde Jingpa, ein Tratschmaul, dem ganzen Dorf vom Besuch des Lama erzählen. Wenn er blieb, um mit ihr zu trinken, dann durfte dies nur ihretwegen geschehen.
»Ah, Rinpoche , haben Sie Mitleid mit mir. Ich bin nicht so glücklich wie Sie. Die Erleuchtung entzieht sich mir. Meine Begierden kontrollieren mich. Auch jetzt, denn ich wünsche mir nichts mehr als die Freude Ihrer geschätzten Gesellschaft. Wollen Sie einer armen Häretikerin den Trost Ihrer Weisheit verweigern?«
»Da du mich darum bittest, werde ich eine kleine Tasse Tee nehmen«, antwortete der Lama.
»Jingpa! Po cha , bitte«, rief Willa.
Jingpa nickte und begann, die Zutaten für das stärkende Getränk zusammenzurühren – schwarzen Tee, Salz, Yakmilch und Butter. Als er fertig war, goss er die dampfende Mischung in eine Bambustasse und
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