Die Witwen von Paradise Bay - Roman
mich gegen das Schlimmste. Dabei ist das vollkommen töricht, denn das Schlimmste ist längst passiert. Trotzdem reagiert mein Körper, als wäre er auf schlechte Nachrichten trainiert. Mein Herz schlägt schneller, mein Mund wird trocken.
»Tut mir leid, Clara, ich lese keine Zeitung«, erwidere ich ruhig. »Sagen Sie mir doch bitte, was geschehen ist.«
»Nun ja, also, mein Schwiegersohn, der in Toronto. Er kommt nicht oft her, meistens bleiben sie auf dem Festland, unter sich. Ich hab sie selbst seit Arties Tod nicht mehr gesehen. Aber was quatsche ich denn da – also mein Schwiegersohn ist kürzlich gestorben, und Prissy bleibt mit dem Kleinen eine Weile hier, bis sie sich etwas beruhigt hat.«
Mir ist zum Weinen zumute, obwohl ich Prissy und ihrem Mann nur ein einziges Mal begegnet bin. Das muss zehn Jahre her sein, Joseph und ich sind ihnen bei einem nachmittäglichen Strandspaziergang in die Arme gelaufen. Prissy hatte gelächelt und Joseph umarmt, wie man einen guten Freund umarmt, den man lange nicht gesehen hat. Mir hat es damals einen kleinen Stich versetzt, als diese schöne junge Frau, mit Sand unter den Fingernägeln und Salzwassertropfen auf den feinen Härchen an den Armen, meinen Ehemann doch recht intim berührte. Der kleine Junge hatte Steine ins Meer geworfen, und Prissy hatte versucht, ihm zu zeigen, wie er sie zum Hüpfen bringt. Ihr Mann hatte ihnen so beglückt zugeschaut, dass ich von einer entsetzlichen Ahnung überwältigt wurde. Genauso war es mir ergangen, als ich einmal mit Joseph im Garten gerauft, er mich unter dem Ahornbaum niedergerungen hatte und mit seinem warmen Atem meinen Hals liebkoste und ich vor Lust erzitterte. Wahres Glück ist flüchtig, darauf kann nur die größtmögliche Tragödie folgen. Wieder überkommt mich dieses entsetzliche Gefühl, wenn auch nicht ganz so heftig.
»Oh, mein Gott«, flüstere ich. Ich muss mich an den Küchentisch setzen, meine Füße wollen mich nicht mehr tragen. Meine Finger umklammern den Hörer, mein Atem wird zu einem flachen Keuchen, mein Herz rast.
»Oh, Clara, das tut mir so leid.« Tränen steigen mir in die Augen. Ich würde sie gerne zurückhalten, bis ich aufgelegt habe. »Kann ich irgendetwas tun? Wie geht es Prissy?«
Oh, ich selbst habe es gehasst, wenn ich nach Josephs Tod diese Fragen hören musste. Außer Joseph von den Toten zu erwecken, hätte nichts meinen Schmerz lindern können, und nun stelle ich die gleichen dummen Fragen. Meiner Kehle entweicht ein Schluchzer.
»Große Güte, Georgia, Sie nehmen sich das ja mehr zu Herzen als Prissy.«
Ich atmete ein paar Mal tief durch, um mich zu beruhigen.
»Es geht ihr ganz gut, gemessen an den Umständen. Meine Tochter ist stark, und im Moment ist Quentin natürlich das Wichtigste.«
»Natürlich«, pflichte ich ihr bei, spreche aber nicht aus Erfahrung. Joseph und ich hatten keine Kinder, und bar einer solchen Verantwortung konnte ich auch unaufhaltsam die Spirale der Depressionen hinabtrudeln. »Wie schlägt sich Ihr Enkel?«
»Quentin? Quentin ist mittlerweile vierzehn und überragt mich und Prissy schon. Aber, ehrlich gesagt, tut er sich schwer. Bis jetzt will er es nicht akzeptieren. Er glaubt immer noch, mit seinem Vater wäre alles in Ordnung und er wäre gesund in Toronto. Wohl die Verleugnungsphase.«
Das kann ich nachvollziehen, auf dem Gebiet kenne ich mich aus. »Wie ist es denn passiert?«, frage ich.
»Er hatte Krebs«, antwortet Clara. »Er hat sich wacker geschlagen, aber am Ende war es doch zu viel. Diese furchtbare Krankheit.«
Ob es schlimmer ist, seinen Mann langsam an den Krebs zu verlieren oder ganz plötzlich, so wie ich? Ich wäge im Geiste die Vor- und Nachteile ab und komme zu keinem Ergebnis. Auf der einen Seite wird man von einem plötzlichen Verlust völlig unvorbereitet getroffen und steht tagelang unter Schock. Ich weiß noch genau, wie Joseph zur Tür ging, mir zuzwinkerte und versprach, es würde nicht spät. Und als ich ihn wiedersah, war er kalt und fahl und leblos. Auf der anderen Seite aber muss es entsetzlich sein, mitanzusehen, wie der eigene Mann immer schwächer wird und allmählich stirbt. Ich werde Joseph zumindest immer groß, stark und gesund in Erinnerung behalten.
»Howard war ein sehr stolzer Mann«, fährt Clara fort. »Schwächen gab es für ihn nicht. Er war schon in Stadium III , als er es Prissy endlich erzählt hat. Da konnte man nur noch dafür sorgen, dass es einigermaßen erträglich verlief.«
»Was für ein
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