Die Wölfe von Yellowstone. Die ersten zehn Jahre (German Edition)
den Park. Auch die Hotels im Park öffnen ihre Pforten, und auf dem Yellowstone Lake, dem größten Hochgebirgssee Nordamerikas, taut das Eis. Auf den im Mai fast überall eisfreien Seen und Flüssen kann man den Trompeterschwan mit seinen Jungen entdecken. Dieser große Vogel ist mit seinem typischen schwarzen Schnabel leicht zu erkennen. Er gehört zu den seltensten Vögeln der Erde und steht unter strengem Naturschutz.
Im Juli ergießen sich wahre Ströme bunter Frühlingsblumen in die Täler, wie geheimnisvolle Farbgeysire, die ihre Pracht unkontrolliert über die Wiesen laufen lassen. Kolibris fliegen verwirrt umher, als ob sie sich nicht entscheiden können, wo sie zuerst trinken sollen. Und auch die anderen zahlreichen Vogelarten treffen aus ihren südlichen Winterquartieren ein.
Das Leben der Wolfsfamilie konzentriert sich jetzt auf die Erziehung ihres Nachwuchses. Die Welpen müssen lernen, sozial verantwortliche Rudelmitglieder zu sein, und enge Bande mit den anderen zu knüpfen. Sie heulen und spielen miteinander, und wenn Familienmitglieder von der Jagd zurückkommen, werden sie begeistert begrüßt. Die Nahrung der Welpen wechselt von Milch zu Fleisch. Die Erwachsenen fressen von einem getöteten Tier und kehren zum Rendezvousplatz zurück, wo ihnen die Welpen die Mundwinkel lecken und sie damit zum Hervorwürgen des vorverdauten Futters animieren. Daraus entwickelt sich automatisch aktive Unterwerfung, was wiederum mit dazu beiträgt, das familiäre Band zu festigen.
Im August ist Hochsaison in Yellowstone. Vier Millionen Besucher kommen jährlich in den Park, die meisten davon in diesem Monat. Überall stehen Touristenbusse und Wohnmobile im Stau. An der Länge des Staus lässt sich erkennen, welche Tierart zu sehen ist. Drei bis fünf Autos: Bisons. Vier bis acht Autos: Kojoten (wobei viele Touristen Kojoten für Wölfe halten). 20 und mehr Autos, Busse etc. in doppelter Breite auf der Fahrbahn: Wölfe oder Bären. Diese Staus kann jeder vermeiden, der nur ein paar Meter abseits der Straße wandert oder in der Dämmerung bei Sonnenauf- und Sonnenuntergang unterwegs ist. Dann sind die Touristen in den Hotels beim Frühstück oder Abendessen und der Park gehört wieder den »Wolf-Groupies«.
Das Wetter ist jetzt meist warm. Anfangs kommt es an den späten Nachmittagen noch zu heftigen Gewitterstürmen, die aber dann im Laufe des Sommers nachlassen. Überall blühen Wildblumen, und in trockenen Jahren fallen gelegentlich Schwärme von Heuschrecken ein.
Jetzt machen sich die Hirsche auf Wanderschaft. Auf uralten Wanderrouten ziehen sie aus den warmen Tälern in höhere, kühlere Gebiete, gefolgt von den Wölfen.
Die kleinen Wölfe gehen ab Mitte August durch eine juvenile Phase, wo sie funktionelles Jagen lernen. In dieser Phase, die bis zu zwei Jahre dauern kann, beginnen die jugendlichen Wölfe, sich zu Beutegreifern zu entwickeln und zu lernen, wie sie erfolgreiche Jäger werden. Die, die es nicht lernen, leben nicht lange. Nachdem die Juvenilen erst einmal hervorgewürgtes Fleisch kennengelernt haben, fressen sie nun feste Nahrung. Als Nächstes müssen sie lernen, Fressen mit Töten zu assoziieren. Biologen haben beobachtet, wie erwachsene Wölfe verwundete Beute zu ihren Welpen brachten, damit sie mit der Beute spielen und lernen, sie zu töten. Das Spiel imitiert das Tötungsverhalten.
Die Welpen beginnen, Mäuse zu jagen; sie üben Anschleichen und Töten. Schließlich kommt der Tag, wo die Jungwölfe die Erwachsenen zum ersten Mal bei der Jagd begleiten. Vielleicht ist es nur ein Kaninchen nicht weit von Zuhause entfernt, aber die Kleinen müssen lernen, wann, wo und wie sie jagen. Sie müssen wissen, wann es wichtig ist, leise zu sein, wie man sich anschleicht, wann man eine Herde auf schwache Tiere testet, wann man jagt und wie man tötet. Dies lernen sie vorwiegend, indem sie die Erwachsenen beobachten und kopieren.
Rick McIntyre beschreibt in James Halfpennys Buch »Yellowstone Wolves. In the Wild« ein solches »Lerntraining«, das er im Sommer 1995 beobachtet hat: Wolf Nummer 8M, der später Leitwolf des Rose-Creek-Rudels und ein ausgezeichneter Jäger werden sollte, war gerade ein Jahr alt, voller Neugier und begierig zu lernen. Rick sah, wie sich der kleine Wolf auf etwas konzentrierte und plötzlich begann, sich mit langsamen, steifen Bewegungen an dieses Etwas heranzuschleichen. McIntyre versuchte mit dem Fernglas herauszufinden, wen der Wolf im Blick hatte, sah aber weiter
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