Die Wölfe von Yellowstone. Die ersten zehn Jahre (German Edition)
andere Spur auszulöschen.
Ende April beginnt auch in Yellowstone endlich der Frühling. Bis auf die höher gelegenen Gebiete schmilzt der Schnee und die ersten grünen Halme schieben sich vorsichtig nach oben. Dies ist die Jahreszeit, in der sich das Wetter nicht zwischen Sommer und Winter entscheiden kann. Es gibt warme, sonnige Tage, aber manchmal legt auch überraschend ein Sturm eine schwere Schicht nassen Schnees über den Park. An anderen Tagen wiederum fühlt es sich wie Sommer an mit Temperaturen um 20 Grad Celsius.
Die Murmeltiere erwachen aus dem Winterschlaf und die ersten Bären lassen sich blicken. Abgemagerte und schlecht gelaunte Grizzlymütter kommen aus den Höhlen, im Schlepptau ihre während der langen Winterruhe geborenen Babys. Sie sind hungrig und graben nach Wurzeln oder nutzen die Reste von Kadavern, die die Wölfe hinterlassen haben.
Frühling ist Babyzeit in Yellowstone. Orangefarbene Bisonkälber staksen auf dünnen Beinchen ihrer Mutter hinterher. Ende April werden die Wolfswelpen geboren, im Durchschnitt etwa sechs pro Wurf. Die Kleinen wachsen und entwickeln sich schnell. Bei ihrer Geburt wiegen sie weniger als 400 Gramm und ihre (zunächst blauen) Augen und Ohren sind geschlossen. Mit etwa zwei Wochen öffnen sich ihre Augen, mit drei Wochen die Ohren. Dann verlassen die Welpen zum ersten Mal die Höhle; zu diesem Zeitpunkt wiegen sie etwa drei Kilogramm. Im Alter von vier Wochen wird der Nachwuchs von der Mutter meist in eine zweite Höhle gebracht – zu ihrer eigenen Sicherheit und um Parasiten zu vermeiden – wo sie weitere vier Wochen bleiben.
Schon einen Monat nach ihrer Geburt fangen die kleinen Wölfchen an, durch heftige, spielerische Kämpfe die für sie im Sozialleben so wichtige Beißhemmung zu lernen. Sie brummen, beißen, knurren, schneiden Grimassen und drohen. Sie imitieren Schlachten und Gefechte, ernennen Führer und Nachfolger und tauschen immer wieder die Rollen von Überlegenen und Unterlegenen. Wolfswelpen haben noch keine etablierte Rangordnung. Das Spiel hilft ihnen, Muskeln und Koordination zu entwickeln, was später wichtig ist, um Beute zu fangen und zu töten. Rennen, Klettern und Springen helfen ihnen, Nahrung zu fangen, angreifenden Hirschen auszuweichen und größere Beutegreifer wie den Grizzly zu meiden.
Der Schutz der Welpen und ihrer Mutter ist die Hauptfunktion einer Wolfsfamilie. Immer wieder legen sie ihre Reviergrenzen fest und erlauben niemandem, sie zu übertreten; dies sichert eine maximale Überlebensrate für den Nachwuchs.
Der Prozess des Erwachsenwerdens ist gefährlich. Statistisch gesehen beträgt die durchschnittliche Lebensspanne eines wilden Wolfes nur sechs Monate. Das liegt an der hohen Sterblichkeit der Welpen während des ersten Jahres. Bären, Berglöwen und Greifvögel töten die Kleinen. Klippen, Krankheiten, Hunger, Überflutungen, Flussüberquerungen – sie alle fordern ihren Preis. In der Wildnis leben nur etwa zwanzig Prozent der Beutegreifer länger als zwei Jahre. Bei den erwachsenen Wölfen im Alter von zwei Jahren und älter beträgt die Lebenserwartung fünf Jahre und einige wenige werden älter als zehn.
Mit fünf Wochen, also Mitte Juni, wiegen die Welpen etwa fünf Kilogramm und ihre Mutter hört auf, sie zu säugen. Über kurze Entfernungen laufen sie hinter ihren Eltern her und gewinnen so Kraft in ihren kleinen Beinchen. Mit zehn bis zwölf Wochen, wenn sie etwas länger laufen können, werden sie zu einem Treffpunkt, dem sogenannten »Rendezvousplatz«, gebracht, der etwa ein bis zwei Kilometer von der Höhle entfernt liegt. Jetzt sind die kleinen Rüden schon schwerer als die Weibchen. Der Größenunterschied ist deutlich zu sehen. Fähen können jetzt bis zu sechs und Rüden bis zu neun Kilo schwer sein.
Manchmal verlegt die Mutter die Welpen noch einmal an einen anderen Rendezvousplatz. Ob damit die Kleinen als »bewegliches Ziel« sicherer sind, oder ob ihnen so nur eine vielfältigere geografische Orientierung ermöglicht werden soll, ist nicht bekannt. Mehrmals am Tag versammelt sich die Familie an diesem Ort und ruft durch ein allgemeines Heulen die fehlenden Mitglieder nach Hause zurück.
Im Yellowstone-Park sind nun wieder alle Straßen von Eis und Schnee befreit und für den Autoverkehr freigegeben. Noch hält sich der Besucherstrom in Grenzen, wenngleich jetzt deutlich mehr Touristen zu sehen sind als im Winter. Die Tierbabys und die Bären locken besonders am Wochenende viele Besucher in
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