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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Callsen stand neben Blobel und versuchte, die Pistole auf die Wand zu richten, ohne seinen Vorgesetzten am Arm zu packen; eine Fensterscheibe war zersprungen; auf dem Boden lag eine Schnapsflasche. Blobel war aschfahl, er schrie zusammenhanglose Wörter und spucktedabei. Häfner trat hinter mir ein: »Was geht hier vor?« – »Ich weiß nicht, anscheinend hat der Standartenführer einen Anfall.« – »Genau, er ist übergeschnappt.« Callsen wandte sich um: »Ach, Obersturmführer, bitten Sie doch die Herren von der Wehrmacht, uns zu entschuldigen und etwas später wiederzukommen, in Ordnung?« Ich trat zurück und stieß gegen Hans, der sich gerade entschlossen hatte einzutreten. »August, hol einen Arzt«, sagte Callsen zu Häfner. Blobel brüllte immer noch: »Unglaublich, einfach unglaublich, die sind doch krank, ich bring sie um!« Die beiden Wehrmachtsoffiziere standen etwas abseits auf dem Gang, steif und bleich. »Meine Herren …«, fing ich an. Häfner stieß mich zur Seite und stürzte die Treppe hinunter. Der Hauptmann rief mit sich überschlagender Stimme: »Ihr Kommandeur ist verrückt geworden! Er wollte auf uns schießen.« Ich brachte kein Wort heraus. Hans trat hinter mir auf den Flur: »Sie müssen entschuldigen, meine Herren. Der Standartenführer hat einen schweren Anfall. Wir haben einen Arzt rufen lassen. Wenn es Ihnen recht ist, setzen wir das Gespräch später fort.« Im Zimmer hörte man Blobel einen gellenden Schrei ausstoßen: »Ich bring sie um, diese Schweine, lasst mich los!« Der Hauptmann zuckte mit den Schultern: »Wenn das die höheren SS-Offiziere sind, verzichten wir auf die Zusammenarbeit.« Er wandte sich seinem Kameraden zu und breitete die Arme aus: »Unglaublich, als hätte man sie aus der Klapsmühle geholt.« Kurt Hans wurde blass: »Ich darf doch bitten, meine Herren! Sie beleidigen die SS …« Er brüllte jetzt ebenfalls. Da raffte ich mich endlich auf und fiel ihm ins Wort. »Hören Sie, ich weiß noch nicht genau, was hier vorgeht, aber offensichtlich handelt es sich um ein medizinisches Problem. Regen Sie sich nicht auf, Hans. Wie mein Kamerad gesagt hat, meine Herren, ist es wohl besser, Sie entschuldigen uns jetzt.« Der Hauptmann musterte mich: »Sie sind Dr. Aue, nicht wahr? Gut, gehen wir«, sagte er zu seinemKameraden. Im Treppenhaus trafen sie auf Sperath, den Arzt des Sonderkommandos, der gerade mit Häfner hochkam: »Sind Sie der Arzt?« – »Ja.« – »Passen Sie auf, dass er nicht auch auf Sie schießt.« Ich trat zur Seite, um Sperath und Häfner vorbeizulassen, folgte ihnen dann ins Zimmer. Blobel hatte die Pistole auf den Nachttisch gelegt und sagte mit abgehackter Stimme zu Callsen: »Begreifen Sie doch, man kann unmöglich so viele Juden erschießen. Ein Pflug wäre nötig, ein Pflug, man müsste sie unterpflügen!« Callsen wandte sich an uns: »Würdest du dich bitte einen Augenblick um den Standartenführer kümmern, August?« Er packte Sperath am Arm, zog ihn zur Seite und begann aufgeregt zu flüstern. »Scheiße!«, brüllte Häfner. Ich drehte mich um, er rang mit Blobel, der wieder nach seiner Pistole griff. »So beruhigen Sie sich doch bitte, Standartenführer!«, rief ich. Callsen stellte sich neben ihn und redete besänftigend auf ihn ein. Sperath trat ebenfalls ans Bett und fühlte ihm den Puls. Wieder wollte Blobel die Hand nach der Pistole ausstrecken, doch Callsen hinderte ihn daran. Jetzt wandte sich Sperath an Blobel: »Hören Sie, Paul, Sie sind überanstrengt. Ich muss Ihnen eine Spritze geben.« – »Nein! Keine Spritze!« Blobels Arm fuhr durch die Luft und traf Callsen im Gesicht. Häfner hatte die Flasche aufgehoben, zeigte sie mir und zuckte mit den Schultern: Sie war fast leer. Kurt Hans war neben der Tür geblieben und sah wortlos zu. Blobel stieß wirre Ausrufe hervor: »Diese Dreckskerle … Wehrmacht … gehören erschossen! Alle!«, dann murmelte er wieder Unverständliches vor sich hin. »August, Obersturmführer, helfen Sie mir«, befahl Callsen. Zu dritt fassten wir Blobel an den Füßen und unter den Armen und legten ihn aufs Bett. Er wehrte sich nicht mehr. Callsen rollte seine Jacke zusammen und legte sie ihm unter den Kopf; Sperath schob ihm den Ärmel hoch und gab ihm eine Spritze. Blobel schien sich schon etwas beruhigt zu haben. Sperath zog Callsen und Häfner zur Tür, um sich mitihnen zu beraten, ich blieb bei Blobel. Seine hervorquellenden Augen starrten zur Decke, ein bisschen blasiger Speichel stand ihm

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