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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Wind war ziemlich heftig, man musste die Augen zukneifen, um nicht von dem feinen, vom Boden aufgewirbelten Schnee geblendet zu werden. In seine Ausgangsposition gelangt, vollführte das Flugzeug eine Wende und beschleunigte, ohne innezuhalten. Es machte einen Schlenker, noch einen, gefährlich nahe an der Schneeböschung; dann lösten sich die Räder vom Boden, die Maschine gewann stöhnend an Höhe, ruckte und schwankte beträchtlich, bevor sie in der undurchsichtigen Wolkenmasse verschwand. Wieder betrachtete ich die verschneiten Haufen neben mir und sah, dass sie aus Leichen bestanden, die wie Holzscheite aufgestapelt waren, die gefrorenen Gesichter bronzefarben mit einem Stich ins Grünliche, übersät mit Bartstoppeln, Schneekristalle in Mundwinkeln, Nasenlöchern und Augenhöhlen. Es mussten Hunderte sein. Ich fragte den Leutnant: »Begraben Sie die nicht?« Er stieß mit dem Fuß gegen den Boden: »Wie wollen Sie sie begraben? Die Erde ist wie Eisen. Wir können keinen Sprengstoff vergeuden. Noch nicht mal Schützengräben können wir ausheben.« Wir gingen zu Fuß; dort, wo der Verkehr Wege gebahnt hatte, war der Schnee festgefahren, glatt, es war besser,an der Seite, in den Verwehungen, zu gehen. Der Leutnant führte mich auf eine lange niedrige Linie zu, die mit Schnee bedeckt war. Ich dachte, es handle sich um Bunker, doch als wir näher kamen, erkannte ich, dass es halb eingegrabene Eisenbahnwaggons waren, mit Sandsäcken vor den Wänden und auf den Dächern und Stufen im Erdboden, die zu den Türen führten. Der Leutnant ließ mich eintreten; drinnen machten sich Offiziere in den Gängen zu schaffen, die Abteile waren in Büros umgewandelt; trübe Glühbirnen verbreiteten schmutzig gelbes Licht, irgendwo musste ein Ofen in Betrieb sein, es war nicht sehr kalt. Der Leutnant forderte mich auf, Platz zu nehmen, nachdem er die Bank von den dort liegenden Papieren befreit hatte. Ich bemerkte Weihnachtsschmuck, ungeschickt aus Buntpapier ausgeschnitten und vor den Fenstern aufgehängt, hinter denen sich Erde, Schnee und gefrorene Sandsäcke türmten. »Möchten Sie Tee?«, fragte der Leutnant. »Etwas anderes kann ich Ihnen nicht anbieten.« Als ich dankend annahm, ging er hinaus. Ich legte die Schapka ab und öffnete den Mantel, dann ließ ich mich auf der Bank nieder. Der Leutnant kam mit zwei Tassen Ersatz zurück und reichte mir eine; seine trank er, in der Abteiltür stehen bleibend. »Sie haben kein Glück«, sagte er zaghaft, »ausgerechnet kurz vor Weihnachten hierherversetzt zu werden.« Ich zuckte die Achseln und blies auf den kochend heißen Tee: »Ach, wissen Sie, Weihnachten ist mir ziemlich egal.« – »Für uns hier ist es sehr wichtig.« Mit einer Handbewegung wies er auf den Schmuck. »Den Männern liegt sehr viel daran. Ich hoffe, die Roten lassen uns in Ruhe. Aber darauf darf man sich nicht verlassen.« Ich fand das merkwürdig: Eigentlich rückte Hoth doch vor, um den Kessel zu öffnen; ich hätte erwartet, dass sich die Offiziere auf den Ausbruch und nicht auf Weihnachten vorbereiten würden. Der Leutnant blickte auf die Uhr: »Die Fahrten sind streng eingeschränkt, daher können wir Sie nicht sofortin die Stadt bringen lassen. Heute Nachmittag besteht eine Möglichkeit.« – »Sehr schön. Wissen Sie, wohin ich muss?« Er sah mich überrascht an: »In die Ortskommandantur, nehme ich an. Da sind alle Sipo-Offiziere.« – »Ich soll mich beim Feldpolizeikommissar Möritz melden.« – »Ja, der ist dort.« Er zögerte: »Ruhen Sie sich aus. Ich komme Sie holen.« Er ließ mich allein. Etwas später kam ein anderer Offizier herein, grüßte zerstreut und begann heftig auf eine Schreibmaschine einzuhämmern. Ich ging auf den Gang hinaus, doch da war mir zu viel Hin und Her. Allmählich bekam ich Hunger, niemand hatte mir etwas angeboten, und ich mochte nicht darum bitten. Ich ging nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen, dort hatte ich das Dröhnen der Flugzeuge und die unregelmäßig erfolgenden Detonationen in den Ohren, ich ging wieder hinein und wartete beim monotonen Klappern der Schreibmaschine.
    Am Nachmittag tauchte der Leutnant wieder auf. Ich war hungrig. Er wies auf mein Gepäck und sagte: »Der Wagen fährt gleich.« Ich folgte ihm zu einem Opel mit Schneeketten, der seltsamerweise von einem Offizier gefahren wurde. »Viel Glück«, sagte der Leutnant und grüßte. »Fröhliche Weihnachten«, erwiderte ich. Wir mussten uns zu fünft in das Fahrzeug quetschen; mit unseren

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