Die Wohlgesinnten
Mänteln fanden wir dort kaum genügend Platz, und ich hatte das Gefühl zu ersticken. Ich lehnte den Kopf gegen die kalte Scheibe und hauchte darauf, um sie vom Beschlag frei zu machen. Der Wagen setzte sich schaukelnd in Bewegung. Der Weg war markiert durch Schilder, die auf Pfähle genagelt waren, durch Bretter und sogar durch gefrorene Pferdebeine, die mit den Hufen nach oben eingegraben waren; es war glatt, sodass der Opel in den Kurven trotz der Schneeketten häufig ins Schleudern geriet; meistens brachte ihn der Offizier wieder geschickt unter Kontrolle, doch hin und wieder versackte das Fahrzeug in den Schneewehen, dann mussten wir aussteigenund schieben, um es wieder flottzumachen. Pitomnik lag, wie ich wusste, ziemlich in der Mitte des Kessels, doch unser Wagen fuhr nicht direkt nach Stalingrad, sondern folgte einer verschlungenen Route, die an verschiedenen Befehlsstellen vorbeiführte; jedes Mal stiegen Offiziere aus, andere nahmen ihren Platz ein; der Wind hatte weiter zugenommen, er hatte sich mittlerweile zu einem Schneesturm ausgewachsen: Wir kamen nur langsam, leise tastend voran. Endlich tauchten die ersten Ruinen auf, Ziegelschornsteine, Mauerreste entlang dem Straßenrand. Zwischen zwei Windböen erkannte ich ein Schild: STALINGRAD – ZUTRITT VERBOTEN – LEBENSGEFAHR. Ich wandte mich an meinen Nachbarn: »Ist das ein Witz?« Er warf mir einen müden Blick zu: »Nein. Warum?« In Serpentinen führte die Straße eine Art Steilufer hinab; unten begannen die Ruinen der Stadt: große Gebäude, zertrümmert, verbrannt, mit gähnenden blinden Fensterhöhlen. Die Fahrbahn war mit Trümmern übersät, die gelegentlich notdürftig beiseitegeräumt worden waren, damit sich die Fahrzeuge hindurchschlängeln konnten. Die unter dem Schnee verborgenen Einschlagslöcher stellten die Stoßdämpfer auf eine harte Probe. Auf beiden Seiten ein Chaos aus Fahrzeugwracks, Lastwagen, Panzern, deutsche und russische bunt durcheinander, gelegentlich sogar ineinander verkeilt. Hier und da begegneten wir einer Patrouille oder, zu meiner Überraschung, zerlumpten Zivilisten, vor allem Frauen mit Eimern oder Säcken. Der Opel überquerte mit klirrenden Ketten eine lange Brücke, die, von Pionieren mit Fertigbauelementen geflickt, über eine Eisenbahnlinie führte: Unten standen in einer langen Reihe Hunderte von schneebedeckten Güterwagen, unversehrt oder auch von Explosionen zerstört. Nach der Stille der Steppe, die nur vom Geräusch der Motoren, der Schneeketten und des Windes durchzogen war, herrschte hier ein ständiger Höllenlärm, mehr oder minder gedämpfte Detonationen, das Gekläff der Pak , das Knattern der Maschinengewehre. Hinter der Brücke bog der Wagen nach links ab, an dem Bahngleis und den aufgegebenen Güterwagen entlang. Zu unserer Rechten zeichnete sich ein großer baumloser Park ab; dahinter weitere Gebäude in Trümmern, schwarz, stumm, die Fassaden auf die Straßen gestürzt oder wie Kulissen in den Himmel ragend. Die Straße führte um den Bahnhof herum, ein prächtiges Bauwerk aus zaristischer Zeit, das früher vielleicht gelb und weiß gewesen war; auf dem Platz davor türmte sich ein Gewirr ausgebrannter oder von Volltreffern zerfetzter Fahrzeuge auf, deren bizarre Formen vom Schnee kaum gedämpft wurden. Der Wagen fuhr in eine lange, diagonal verlaufende Prachtstraße ein: Der Gefechtslärm verstärkte sich, vor uns bemerkte ich schwarze Rauchschwaden, aber ich hatte nicht die geringste Ahnung, wo sich die Front befinden mochte. Die Allee führte auf einen riesigen leeren Platz, er war mit Trümmern übersät und umgab eine Art von Laternenpfählen begrenzte Anlage. Der Offizier hielt vor einem großen Gebäude, das an einer Ecke ein halbrundes Peristyl mit von Einschlägen zerschmetterten Säulen aufwies, darüber große quadratische leere schwarze Fensterhöhlen und ganz oben eine Hakenkreuzflagge, die schlaff an ihrer Stange herunterhing. »Sie sind da«, sagte er und steckte sich eine Zigarette an. Ich wand mich aus dem Auto hinaus, öffnete den Kofferraum und holte mein Gepäck heraus. Einige Soldaten mit Maschinenpistolen standen unter dem Säulenvorbau, kamen aber nicht näher. Kaum hatte ich den Kofferraum geschlossen, setzte sich der Opel wieder in Bewegung, wendete und fuhr unter lärmendem Klirren der Schneeketten auf der Avenue in Richtung Bahnhof davon. Ich betrachtete den trostlosen Platz: In der Mitte schien ein Kinderreigen aus Stein oder Gips, wohl die Überbleibsel eines
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