Die Wohlgesinnten
war frei.
In Lemberg herrschte Chaos. Keiner der Kontrollposten konnte uns sagen, wo sich die Kommandantur der Sicherheitspolizei und des SD befand. Obwohl die Stadt zwei Tagezuvor eingenommen worden war, hatte sich anscheinend niemand die Mühe gemacht, Hinweisschilder anzubringen. Mehr oder minder aufs Geratewohl folgten wir einer breiten Straße; sie mündete in einen langen Boulevard, der durch einen parkähnlichen Mittelstreifen geteilt und von pastellfarbenen Häuserfassaden mit hübschem weißem Ziergesims gesäumt wurde. Auf den Straßen herrschte lebhaftes Treiben. Zwischen den deutschen Militärfahrzeugen fuhren offene Wagen und Lastwagen umher, geschmückt mit Spruchbändern und blau-gelben Fahnen, vollbesetzt mit Männern in Zivil oder in unterschiedlichsten Uniformstücken, die mit Gewehren und Pistolen bewaffnet waren; sie schrien, sangen, schossen in die Luft; auf den Bürgersteigen und im Park jubelten ihnen andere bewaffnete oder unbewaffnete Männer zu, inmitten von deutschen Soldaten mit unbeteiligten Gesichtern. Schließlich konnte mir ein Leutnant der Luftwaffe den Weg zum Gefechtsstand einer Division beschreiben; von dort schickte man uns zum AOK 17. Offiziere rannten die Treppen auf und ab, betraten die Büros, kamen wieder heraus und knallten die Türen zu; die Gänge waren übersät mit zerfledderten und zertretenen sowjetischen Akten; in der Eingangshalle stand eine Gruppe Zivilisten in Anzügen mit blau-gelben Armbinden und Gewehren; sie diskutierten heftig, ich weiß nicht, ob auf Ukrainisch oder Polnisch, mit Soldaten, die deutsche Uniformen mit blau-gelber Paspelierung auf den Schulterklappen trugen. Endlich erwischte ich einen jungen Major von der Abwehr: »Einsatzgruppe B? Die ist gestern hier angekommen. Sie hat sich in den Büros des NKWD eingerichtet.« – »Und wo finde ich die?« Er blickte mich aus leeren erschöpften Augen an: »Keine Ahnung.« Schließlich fand er jemanden, der schon einmal dort gewesen war, er sollte mich führen.
Auf dem Boulevard kam der Verkehr nur im Schritttempo voran, dann brachte ein Menschenauflauf ihn vollendszum Erliegen. Ich stieg aus dem Opel, um zu sehen, was los war. Die Leute schrien sich die Lunge aus dem Hals und klatschten; einige hatten aus einem Café Stühle oder Kisten geholt und sich daraufgestellt, um besser zu sehen; andere trugen Kinder auf den Schultern. Mühsam bahnte ich mir einen Weg. Inmitten der Menge stolzierten auf einer großen freien Fläche Männer in Kostümen, die aus irgendeinem Theaterfundus oder Museum entwendet waren: extravagante Kleidungsstücke, eine Perücke im Régencestil mit einem Husarendolman von 1812, eine Amtsrobe mit Hermelinbesatz, mongolische Rüstungen und schottische Plaids, ein Operettenkostüm, halb Römerzeit, halb Renaissance, mit einer Halskrause; ein Mann trug eine Uniform von Budjonnys Roter Reiterarmee, aber mit Zylinder und Pelzkragen, und fuchtelte mit einer Mauser-Pistole herum; alle waren mit Knüppeln oder Gewehren bewaffnet. Zu ihren Füßen knieten mehrere Männer und leckten den Boden ab; ab und zu versetzte ihnen einer der Kostümierten einen Fußtritt oder einen Schlag mit dem Gewehrkolben; die meisten bluteten stark; die Menge grölte noch lauter. Hinter mir stimmte ein Akkordeonspieler eine flotte Melodie an; sofort fielen Dutzende Stimmen ein, während ein Mann im Kilt eine Geige hervorholte, deren Saiten er in Ermangelung eines Bogens wie bei einer Gitarre zupfte. Ein Zuschauer zog mich am Ärmel und schrie mir wie rasend zu: » Jid, Jid, kaput! « Das hatte ich jedoch schon begriffen. Ich befreite mich mit einem heftigen Ruck und drängte mich wieder durch die Menge; Höfler hatte den Wagen inzwischen gewendet. »Ich glaube, wir können dort langfahren«, meinte der Mann von der Abwehr und zeigte auf eine Seitenstraße. Im Nu hatten wir uns verfahren. Höfler hatte schließlich die Idee, einem Passanten zuzurufen: »NKWD? NKWD?« – »NKWD kaput!«, rief der Mann fröhlich. Er zeigte uns den Weg: Tatsächlich lag es nur zweihundert Meter vom AOK entfernt, wir waren in die falscheRichtung gefahren. Ich entließ unseren Führer und ging nach oben, um mich vorzustellen. Man teilte mir mit, dass sich Rasch gerade in einer Besprechung mit all seinen Leitern und Offizieren vom AOK befand; niemand wusste, wann er Zeit für mich fände. Schließlich kam mir ein Hauptsturmführer zu Hilfe: »Sie kommen aus Luzk? Wir sind schon auf dem Laufenden, der Brigadeführer hat mit
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