Die Wohlgesinnten
und nahmen mit der Luft, dem Geruch, dem Staub Gestalt an: Und ich tauchte in meine Empfindungen ein, wie ich in die Wolga eingetaucht war, vollkommen gelöst. In den Ecken meinte ich den Schatten unserer Körper, den Widerschein unserer weißen Haut zu erblicken. Dann schüttelte ich das ab und fand die Kartons mit meinen Sachen. Ich zog sie an eine große freie Stelle in der Nähe eines Stützbalkens, hockte mich hin und begann darin herumzustöbern. Ich fand Blechautos, Zeugnis- und Schulhefte, Jugendbücher, Fotos in dicken Umschlägen, andere, versiegelte Umschläge mit den Briefen meiner Schwester, eine ganze Vergangenheit, fremd und brutal. Ich wagte nicht, die Fotos anzusehen und die Umschläge zu öffnen, ich spürte in mir eine animalische Angst wachsen; selbst die harmlosesten und unschuldigsten Gegenstände trugen den Stempel der Vergangenheit, dieser Vergangenheit, die mich durch die bloße Tatsache ihrer Existenz bis ins Mark frieren ließ; jeder neue und doch so vertraute Gegenstand flößte mir eine Mischung aus Abscheu und Faszination ein, als hielte ich eine entsicherte Granate in der Hand. Um mich zu beruhigen, schaute ich die Bücher genauer durch: die typische Bibliothek eines Jugendlichen meiner Generation – Jules Verne, Paul de Kock, Hugo, Eugène Sue, die Amerikaner E. R. Burroughs und Mark Twain, die Abenteuer von Fantômas und Rouletabille, Reiseberichte, einige Biografien großer Männer. Ich bekam Lust, einige von ihnen wiederzulesen, und nach kurzem Zögern legte ich die drei ersten Bände der Mars-Reihe von Burroughs beiseite, diejenigen, die für meine Fantasien im Badezimmer des ersten Stocks verantwortlich gewesen waren, neugierig, ob sie noch der Intensität meiner Erinnerungen entsprachen. Dann nahm ich die versiegelten Umschläge wieder vor. Ich wog sie in der Hand und wendete sie zwischen den Fingern. Anfangs, nach dem Skandal und unserer Abschiebung ins Internat, durften meine Schwesterund ich uns noch schreiben; wenn ich einen Brief von ihr erhielt, musste ich ihn vor einem der Patres öffnen und ihm zu lesen geben, bevor ich es selbst durfte; ich denke, bei ihr war es nicht anders. Ihre Briefe, die merkwürdigerweise mit der Maschine geschrieben waren, waren lang, erbaulich und feierlich: Mein lieber Bruder! Es geht mir gut hier, man behandelt mich sehr rücksichtsvoll. Ich erwache zu einem neuen geistigen Leben. Doch nachts schloss ich mich mit einem Kerzenstumpf im Klo ein, vor Angst und Aufregung zitternd, und hielt den Brief über die Flamme, bis eine zweite Botschaft erschien, die mit Milch zwischen die Zeilen gekritzelt war: HILFE! HOL MICH HIER RAUS! ICH FLEHE DICH AN! Wir waren auf diesen Einfall gekommen, als wir, heimlich natürlich, eine Lenin-Biografie gelesen hatten, die wir bei einem Antiquar in der Nähe des Rathauses entdeckt hatten. Diese verzweifelte Botschaft versetzte mich in Panik, und ich beschloss, zu fliehen und sie zu retten. Aber ich hatte das Unternehmen schlecht vorbereitet und wurde rasch wieder aufgegriffen. Ich wurde schwer bestraft, ich bekam den Stock und eine Woche Wasser und Brot, und die Schikanen der älteren Jungen verstärkten sich noch, aber das war mir alles egal; allerdings durfte ich keine Briefe mehr empfangen, ein Verbot, das mich in Wut und Verzweiflung stürzte. Ich wusste nicht einmal, ob ich diese letzten Briefe aufgehoben hatte und sie sich auch in diesen Umschlägen befanden; aber ich hatte nicht den Wunsch, mich davon zu überzeugen. Ich tat alles zurück in die Kartons, ergriff die drei Bücher und stieg wieder hinunter.
Von einem unbestimmten Impuls getrieben, betrat ich Unas altes Zimmer. Dort stand jetzt ein Etagenbett aus rot und blau gestrichenem Holz, und unter den ordentlich aufgeräumten Spielsachen erkannte ich voller Zorn einige von mir wieder. Alle Kleidungsstücke lagen zusammengefaltet in Kommoden oder hingen in Schränken. Rasch suchte ichnach irgendwelchen Anhaltspunkten, nach Briefen, aber ich fand nichts. Der Familienname auf den Zeugnisheften war mir unbekannt, schien aber arisch zu sein. Diese Zeugnishefte reichten einige Jahre zurück: Sie mussten hier also schon einige Zeit leben. Ich hörte meine Mutter hinter mir: »Was machst du da?« – »Ich schaue mich um«, sagte ich, ohne mich umzudrehen. »Du tätest besser daran, hinunterzugehen und Holz zu hacken, wie Aristide dich gebeten hat. Ich werde was zu essen kochen.« Ich drehte mich um: Sie stand in der Tür, streng und mit unbewegter Miene. »Wer
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