Die Wohlgesinnten
sind diese Kinder?« – »Das habe ich dir doch gesagt, die Kinder einer guten Freundin. Wir haben sie zu uns genommen, als sie nicht mehr in der Lage war, sich um sie zu kümmern. Sie haben keinen Vater.« – »Seit wann sind sie hier?« – »Seit einiger Zeit. Du bist auch schon einige Zeit fort, mein Kleiner.« Ich sah mich erneut um: »Das sind kleine Juden, nicht wahr? Gib es zu. Das sind Juden, sag schon!« Sie ließ sich nicht aus der Fassung bringen: »Hör auf, so einen Unsinn zu reden. Das sind keine Juden. Wenn du mir nicht glaubst, brauchst du sie dir nur anzuschauen, wenn sie ein Bad nehmen. So macht ihr das doch, oder?« – »Ja, manchmal machen wir das so.« – »Und? Was würde das ändern, wenn sie Juden wären? Was würdest du mit ihnen machen?« – »Gar nichts würde ich mit ihnen machen.« – »Was macht ihr mit den Juden?«, fuhr sie fort. »Man hört alle möglichen Schauergeschichten. Selbst die Italiener sagen, was ihr macht, sei unerträglich.« Ich fühlte mich plötzlich alt und müde: »Wir schicken sie arbeiten, im Osten. Sie bauen Straßen, Häuser, sie arbeiten in Fabriken.« Sie ließ nicht locker: »Schickt ihr auch die Kinder zum Straßenbau? Ihr nehmt auch die Kinder, nicht wahr?« – »Die Kinder kommen in Sonderlager. Sie bleiben bei den Müttern, die nicht arbeiten können.« – »Warum tut ihr das?« Ich zuckte die Achseln: »Irgendjemand musste es tun. Die Juden sind Parasiten und Ausbeuter:Jetzt dienen sie denen, die sie ausgebeutet haben. Nur zu deiner Information, die Franzosen helfen uns dabei sehr bereitwillig: In Frankreich werden die Juden von der französischen Polizei festgenommen und uns dann übergeben. Das geschieht nach französischem Recht und Gesetz. Eines Tages wird die Geschichte zeigen, dass wir Recht gehabt haben.« – »Ihr seid vollkommen wahnsinnig. Geh Holz hacken.« Sie wandte sich um zur Dienstbotentreppe. Ich steckte die drei Bücher von Burroughs in meinen Kleidersack, dann ging ich in den Schuppen. Ich zog die Jacke aus, nahm die Axt und legte einen Klotz auf den Haublock, um ihn zu spalten. Es war gar nicht so leicht, ich war an solche Arbeit nicht gewöhnt und brauchte mehrere Anläufe. Während ich die Axt schwang, dachte ich an die Worte meiner Mutter; nicht ihr Mangel an politischem Verständnis machte mir zu schaffen, sondern der Blick, mit dem sie mich angesehen hatte: Was hatte sie gesehen, als sie mich betrachtet hatte? Ich spürte, wie ich unter der drückenden Last der Vergangenheit litt, der empfangenen oder eingebildeten Wunden, der irreparablen Fehler, der Heillosigkeit der Zeit. Sich wehren nützte gar nichts. Als ich einige Kloben geschafft hatte, häufte ich mir die Scheite auf den Arm und trug sie in die Küche. Meine Mutter schälte Kartoffeln. Ich legte das Holz auf den Stapel neben dem Herd und ging wortlos hinaus, um weiter zu hacken. Ich machte den Weg mehrmals. Beim Arbeiten dachte ich: Im Grunde ist das kollektive Problem der Deutschen das gleiche wie meines; auch sie sind bemüht, sich von einer schmerzlichen Vergangenheit zu befreien, reinen Tisch zu machen, um ganz neu anfangen zu können. So sind sie auf die radikalste aller Lösungen verfallen, den Mord, den grausigen Schrecken des Mordes. Aber war der Mord eine Lösung? Ich dachte an die vielen Gespräche, die ich darüber geführt hatte: Ich war nicht der Einzige in Deutschland, der seine Zweifel hatte. Und wenn der Mord keine endgültigeLösung war, wenn im Gegenteil diese neue Tat, noch weniger ungeschehen zu machen als die früheren, ihrerseits neue Abgründe aufriss? Was blieb dann für ein Ausweg? In der Küche bemerkte ich, dass ich die Axt noch immer in der Hand hielt. Der Raum war leer: Meine Mutter musste sich im Salon aufhalten. Ich betrachtete den Holzstapel, er erschien mir ausreichend. Ich war schweißgebadet; ich legte die Axt in die Ecke neben das Holz und ging nach oben, um mich zu waschen und das Hemd zu wechseln.
Die Mahlzeit fand in unbehaglichem Schweigen statt. Die Zwillinge aßen in der Schule zu Mittag, wir waren nur zu dritt. Moreau machte den Versuch, auf die neuesten Nachrichten einzugehen – Briten und Amerikaner rückten schnell auf Tunis vor, in Warschau waren Unruhen ausgebrochen –, aber ich schwieg beharrlich vor mich hin. Ich betrachtete ihn und sagte mir: Das ist ein gerissener Mann, der wird sicherlich auch Kontakt zu den Terroristen halten und ihnen ein wenig helfen; wenn die Lage sich verschlechtert, wird er sagen, er
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