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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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bemerkenswert exakten Anschlag. Anschließend lud ich ihn zu einem Glas ein und plauderte mit ihm. Er stand lose mit einer jener Emigrantengruppen in Verbindung, die in den Amtsstuben des Auswärtigen Amts und der SS vergeblich versuchten, ihrer Sache Gehör zu verschaffen; der Name Mischa Kedja, den er nannte, kam mir bekannt vor. Als er hörte, dass ich im Kaukasus gewesen war, geriet er vor Begeisterung völlig aus dem Häuschen, bestellte noch eine Runde, brachte (obwohl ich nie einen Fuß in seine heimatliche Gebirgsregion gesetzt hatte) einen feierlichen und nicht enden wollenden Toast aus, nötigte mich, das Glas in einem Zug zu leeren, und lud mich auf der Stelle auf den Sitz seiner Vorfahren in Tiflis ein – sobald unsere Truppen esbefreit hätten. Allmählich füllte sich die Bar. Gegen sieben Uhr verliefen die Gespräche im Sande, die Anwesenden begannen nach der Uhr über der Bar zu schielen: Zehn Minuten später ertönten die Sirenen, dann die Flak, heftig und nah. Der Geschäftsführer hatte uns versichert, dass die Bar auch als Luftschutzraum diente, alle Hotelgäste kamen herunter, bald gab es keinen Platz mehr. Die Stimmung wurde ziemlich lebhaft und ausgelassen: Während die ersten Bomben näher kamen, setzte sich der Georgier wieder ans Klavier und begann ein Jazzstück; Frauen in Abendkleidern standen zum Tanzen auf, die Wände und Kronleuchter zitterten, Gläser fielen von der Bar und zersplitterten, in dem Lärm der Detonationen war die Musik kaum noch zu hören, der Luftdruck wurde unerträglich, ich trank, Frauen lachten hysterisch, eine versuchte, mich zu küssen, brach dann in Tränen aus. Als es vorbei war, spendierte der Geschäftsführer eine Lokalrunde. Ich ging hinaus: Der Zoo war getroffen worden, Pavillons brannten, überall neue Brände; ich rauchte eine Zigarette und bedauerte, dass ich mir die Tiere nicht angesehen hatte, als es noch Zeit war. Ein Stück Wand war umgekippt; ich trat näher, Männer liefen in alle Richtungen, einige trugen Gewehre, es war die Rede von entwichenen Löwen und Tigern. Mehrere Brandbomben waren eingeschlagen, und jenseits der niedergegangenen Ziegelsteinlawine sah ich die Galerien in Flammen; der große indische Tempel war ausgeweidet; drinnen, so hörte ich von jemandem, der vorbeikam, hatten Elefantenkadaver gelegen, von Bomben zerfetzt, außerdem ein Nashorn, anscheinend ohne Schaden davongekommen, aber auch tot, vielleicht vor Angst verendet. Hinter mir brannte ein großer Teil der Häuser in der Budapester Straße. Ich ging hinüber, um den Feuerwehrleuten zu helfen; stundenlang räumte ich Trümmer beiseite; alle fünf Minuten wurden die Arbeiten auf einen Pfiff hin eingestellt, damit die Such- und Rettungstrupps die dumpfenSchläge der Verschütteten hören konnten, und zahlreiche Überlebende wurden herausgeholt, verletzt oder sogar unversehrt. Gegen Mitternacht kehrte ich ins Eden zurück; die Fassade war beschädigt, aber das Gebäude selbst von einem Treffer verschont geblieben; in der Bar ging das Fest weiter. Mein neuer georgischer Freund nötigte mich zu mehreren Gläsern hintereinander; die Uniform, die mir Thomas geliehen hatte, war mit Schmutz und Ruß bedeckt, was die Frauen der besseren Gesellschaft nicht daran hinderte, mit mir zu flirten; offenbar verspürten nur wenige von ihnen Lust, die Nacht allein zu verbringen. Der Georgier ließ nicht locker, bis ich vollkommen betrunken war: Am nächsten Morgen erwachte ich in meinem Bett – ohne Waffenrock und Hemd, aber mit Schuhen – und konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern, wie ich in mein Zimmer gekommen war. Der Georgier schnarchte im Nachbarbett. Ich säuberte mich, so gut es ging, zog eine meiner Uniformen an und gab die von Thomas zum Waschen; meinen Nachbarn seinem Schlaf überlassend, schüttete ich einen schlechten Kaffee hinunter, ließ mir eine Tablette gegen die Kopfschmerzen geben und kehrte in die Prinz-Albrecht-Straße zurück.
    Die Offiziere der Reichsführung sahen alle ein wenig verstört aus: Viele von ihnen hatten die Nacht nicht geschlafen; eine ganze Menge war ausgebombt, etliche hatten Angehörige verloren. In der Eingangshalle und auf den Treppen waren KL-Häftlinge, von Totenkopf-SS bewacht, damit beschäftigt, den Fußboden zu fegen, Bretter anzunageln und die Wände zu streichen. Brandt befahl mir, einigen Offizieren dabei zu helfen, durch Erkundigungen bei der Stadtverwaltung eine vorläufige Bilanz der Schäden für den Reichsführer

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