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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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unterhalten uns morgen darüber.« Da es hier nicht viel zu tun gab, ging ich nach nebenan zur Geheimen Staatspolizei; dort wurden die herausgerissenen Türen wieder angenagelt, so gut es ging; einige Bomben waren ziemlich nahe eingeschlagen, ein Stück die Straße hinunter tat sich ein riesiger Krater auf, aus einem geplatzten Rohr lief Wasser aus. Ich fand Thomas in seinem Dienstzimmer, er trank mit drei anderen Offizieren Schnaps, er war aufgelöst, schwarz vor Schmutz und vergnügt. »Schau an!«, rief er aus. »Du siehst ja prachtvoll aus. Hier, trink! Wo warst du?« Ich schilderte ihm kurz meine Erlebnisse im Reichsministerium. »Ha! Ich war schon zu Hause und bin mit Nachbarn in den Keller gegangen. Eine Luftmine hat das Dach durchschlagen, und das Gebäude hat Feuer gefangen. Wir mussten die Wände mehrerer Nachbarkeller durchbrechen, um am Ende der Straße rauszukommen. Die Straße stand in Flammen, und die Hälfte meines Hauses, mit meiner Wohnung, war eingestürzt. Und dann fand ich auch noch mein armes Kabrio unter einem Bus wieder. Kurzum, ich bin arm wie eine Kirchenmaus.« Er goss mir noch ein Glas ein. »Trinkt, Leute, das Unglück kann nicht schwimmen, wie meine Großmutter Iwona immer sagte.«
    Schließlich verbrachte ich die Nacht bei der Geheimen Staatspolizei. Thomas ließ sich belegte Brote, Tee und Suppe bringen. Er lieh mir eine seiner Ersatzuniformen, die mir etwas zu groß war, aber vorzeigbarer als meine Lumpen; eine lächelnde Tippmamsell machte sich an das Auswechseln der Rangabzeichen. In der Sporthalle waren Feldbetten für rund fünfzehn ausgebombte Offiziere aufgestellt worden; dort traf ich Eduard Holste wieder, den ich Ende 1942 kurz als Leiter IV/V der Gruppe D kennengelernt hatte; er hatte alles verloren und weinte fast vor Verbitterung. Leider funktioniertendie Duschen noch nicht wieder, daher konnte ich mir nur Gesicht und Hände waschen. Ich hatte Halsschmerzen und hustete, aber Thomas’ Schnaps hatte den Aschegeschmack hinuntergespült. Draußen waren noch immer Detonationen zu hören. Der Wind heulte entfesselt und beklemmend.
    Früh am Morgen holte ich, ohne auf Piontek zu warten, den Wagen aus der Garage und fuhr zu mir. Die Straßen waren von verbrannten oder umgestürzten Straßenbahnen, abgeknickten Bäumen und Trümmern versperrt, und ich kam nur mühsam voran. Eine schwarze beißende Rauchwolke verhüllte den Himmel, und zahlreiche Passanten hielten sich feuchte Taschen- oder Handtücher vor den Mund. Es regnete noch immer. Ich fuhr an Menschenschlangen vorbei, einige schoben Kinderwagen oder Karren, beladen mit ihren Habseligkeiten, andere schleppten oder zogen mühsam ihre Koffer hinter sich her. Überall floss Wasser aus zerborstenen Leitungen, ich musste durch Lachen fahren, in denen ich Gefahr lief, mir die Reifen an Trümmern zu zerreißen. Trotzdem waren viele Autos unterwegs, die meisten ohne Scheiben, einige sogar ohne Türen, aber alle überfüllt: Wer Platz hatte, nahm Ausgebombte mit, ich auch – eine erschöpfte Mutter mit ihren zwei kleinen Kindern, die zu ihren Eltern wollte. Ich fuhr den Weg quer durch den verwüsteten Tiergarten; die Siegessäule stand wie aus Trotz noch immer aufrecht, mitten in einem großen See, der durch einen Rohrbruch entstanden war und mich zu einem beträchtlichen Umweg zwang. Ich setzte die Frau in den Trümmern der Händelallee ab und fuhr weiter in Richtung meiner Wohnung. Überall waren Aufräum- und Instandsetzungstrupps damit beschäftigt, die Schäden zu beheben; vor zerstörten Gebäuden leiteten Pioniere Luft in die verschütteten Keller und gruben, um die Überlebenden zu befreien, unterstützt von italienischen Militärinternierten, die in roter Ölfarbe den Buchstaben I auf dem Rücken trugen, im Volksmund abernur noch »Badoglios« hießen. Die S-Bahn-Station in der Brückenallee war nur noch eine Ruine; ich wohnte ein Stück weiter in der Flensburger Straße; mein Wohnblock schien wunderbarerweise unversehrt: Einhundertfünfzig Meter weiter sah ich nur noch Schutt und Fassaden mit leeren Fensterhöhlen. Der Fahrstuhl funktionierte natürlich nicht mehr, ich stieg die acht Etagen hinauf, meine Nachbarn fegten das Treppenhaus oder vernagelten ihre Türen, so gut es ging. Meine war herausgerissen und lag quer vor dem Rahmen; drinnen war alles von einer dicken Schicht Glassplitter und Gips bedeckt; ich sah Fußspuren, mein Grammofon war verschwunden, aber sonst schien nichts zu fehlen. Ein kalter, schneidender Wind

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