Die Wohlgesinnten
lieber klarmachen, dass die Bolschewisten eine noch größere Gefahr darstellen als wir. Wenn die Polen an unserer Seite kämpfen würden, könnten wir die Russen vielleicht aufhalten. Aber der Führer will nichts davon hören. Und der Balkan wird wie ein Kartenhaus zusammenfallen.« In Bessarabien war die unter Fretter-Pico neu aufgestellte 6. Armee auf dem besten Wege, wieder völlig aufgerieben zu werden: Das Tor zu Rumänien stand weit offen. Frankreich war allem Anschein nach verloren; nachdem die Engländer und Amerikaner eine neue Front in der Provence eröffnet und Paris genommen hatten, schickten siesich an, den Rest des Landes zu säubern, während unsere geschlagenen Truppen über den Rhein zurückfluteten. Ohlendorf war sehr pessimistisch: »Laut Kammler sind die neuen Raketen fast fertig. Er ist überzeugt davon, dass sie den Verlauf des Krieges verändern werden. Aber ich wüsste nicht wie. Eine Rakete transportiert weniger Sprengstoff als eine amerikanische B-17 und lässt sich nur einmal verwenden.« Anders als Schellenberg, über den er nichts sagen wollte, hatte er keinen Plan, keine konkreten Lösungen: Er sprach lediglich von einem »letzten nationalsozialistischen Aufbäumen, einem gewaltigen Ruck«, was für mich etwas zu viel Ähnlichkeit mit der Goebbels’schen Rhetorik hatte. Ich hatte den Eindruck, dass er sich insgeheim mit der Niederlage abgefunden hatte. Vermutlich hatte er sich das aber noch nicht eingestanden.
Die Ereignisse vom 20. Juli hatten noch eine weitere, geringfügige, aber für mich ärgerliche Konsequenz: Mitte August verhaftete die Gestapo Standartenführer Baumann vom SS-Gericht Berlin. Ich erfuhr das schon bald von Thomas, war mir aber über die Folgen nicht sogleich im Klaren. Anfang September wurde ich von Brandt einbestellt, der den Reichsführer auf einer Inspektionsreise durch Schleswig-Holstein begleitete. Ich stieg in der Nähe von Lübeck in den Sonderzug. Brandt eröffnete mir zunächst, dass der Reichsführer mir das Kriegsverdienstkreuz Erster Klasse verleihen wollte: »Wie immer Sie selbst darüber denken mögen, Ihr Einsatz in Ungarn war sehr nützlich. Der Reichsführer ist zufrieden. Er hat auch einen sehr günstigen Eindruck von Ihrer letzten Initiative.« Dann informierte er mich, dass die Kripo Baumanns Nachfolger gebeten habe, die Akte, in der ich verdächtigt wurde, noch einmal zu prüfen; dieser habe dem Reichsführer geschrieben, dass die Verdachtsmomente seiner Meinung nach eine Untersuchung rechtfertigten. »Der Reichsführer hat seine Meinung nicht geändert und hat nach wievor uneingeschränktes Vertrauen zu Ihnen. Aber er glaubt, er würde Ihnen einen schlechten Dienst erweisen, wenn er die Untersuchung erneut verhinderte. Sie müssen wissen, es gibt schon Gerüchte. Am besten wäre es, wenn Sie Gelegenheit bekämen, sich zu verteidigen und Ihre Unschuld zu beweisen: Auf diese Weise könnte man die Angelegenheit ein für alle Mal aus der Welt schaffen.« Der Gedanke gefiel mir nicht, denn ich kannte mittlerweile die obsessive Verbissenheit von Clemens und Weser nur zu gut, aber ich hatte keine Wahl. Wieder in Berlin, sprach ich selber beim SS-Richter von Rabingen vor, einem fanatischen Nationalsozialisten, und legte ihm meine Sicht der Dinge dar. Er erwiderte, die von der Kripo zusammengestellte Akte enthalte fragwürdige Einzelheiten, wobei er vor allem auf diese blutgetränkten deutschen Kleidungsstücke einging, die meine Größe aufwiesen, außerdem zeigte er sich von der Geschichte mit den Zwillingen befremdet, die er unbedingt aufklären wollte. Die Kripo hatte endlich meine Schwester befragt, die nach Pommern zurückgekehrt war: Sie hatte die Zwillinge in einem Privatinstitut in der Schweiz untergebracht und bestätigt, dass es die in Frankreich geborenen und verwaisten Kinder einer Cousine und ihre Geburtsurkunden 1940, während des französischen Zusammenbruchs, verschwunden seien. »Das könnte stimmen«, sagte von Rabingen streng, »lässt sich aber im Augenblick nicht überprüfen.«
Diese ständigen Verdächtigungen machten mir zu schaffen. Einige Tage lang drohte mir ein Rückfall, ich schloss mich zu Hause ein, dämmerte in düsterer Niedergeschlagenheit vor mich hin und ließ sogar Helene nicht herein, die zu einem Besuch gekommen war. Nachts sprangen Clemens und Weser als grob geschnitzte und nachlässig bemalte Marionetten in meinen Schlaf, knarrten durch meine Träume und umschwirrten mich wie bösartige, höhnische
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