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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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fahren. Die Menge folgte den Juden, es herrschte ein ungeheures Stimmengewirr. Alles bewegte sich zur Stadt hinaus zum so genannten Pferdefriedhof : Dort war bereits ein Graben ausgehoben, dahinter ein Stapel Balken als Kugelfang. Obersturmführer Grafhorst, Chef unserer Kompanie der Waffen-SS, wartete mit etwa zwanzig seiner Männer. Blobel und Häfner inspizierten den Graben, dann warteten wir. Ich dachte nach, dachte an mein Leben, an die Beziehung, die es wohl zwischen dem Leben gab, das ich geführt hatte – einem ganz normalen Leben, einem Allerweltsleben, das zwar seine außergewöhnlichen, aus dem Rahmen fallenden Seiten gehabt haben mochte, aber im Großen und Ganzen doch sehr gewöhnlich gewesen war –, und dem, was hier geschah. Es musste einen Zusammenhang geben, und natürlich gab es einen. Gewiss, ich nahm an den Exekutionen nicht teil, ich kommandierte keine Erschießungskommandos; doch das änderte nicht viel, denn ich wohnte ihnen regelmäßig bei, ich half bei den Vorbereitungen und ich schrieb die Berichte; im Übrigen war es eher zufällig, dass ich zum Stab und nicht zu einem der Teilkommandos abkommandiert war. Und wenn man mir ein Teilkommando gegeben hätte, hätte ich dann auch, wie Nagel oder Häfner, Razzien durchführen, Gruben ausheben, die Verurteilten Aufstellung nehmen lassen und »Feuer« schreien können? Ja, ganz bestimmt. Seit meiner Kindheit trieb mich der leidenschaftliche Wunsch nach dem Absoluten und nach Grenzüberschreitung; jetzt hatte mich diese Leidenschaft an den Rand der Massengräber in der Ukraine geführt. Ich war immer bestrebt gewesen, radikal zu denken; nun hatten auchder Staat, die Nation die Radikalität und das Absolute für sich entdeckt; wie also hätte ich mich in diesem Augenblick verweigern, Nein sagen und mich stattdessen für die Bequemlichkeit der bürgerlichen Gesetze, die laue Sicherheit des Gesellschaftsvertrags entscheiden können? Das war natürlich unmöglich. Und wenn sich die Radikalität als die des Abgrunds und das Absolute als das absolut Schlechte erwies, so galt es trotzdem – zumindest war ich davon in meinem Innersten überzeugt –, ihnen offenen Auges bis zum bitteren Ende zu folgen. Jetzt traf die Menge ein und überschwemmte den Friedhof; ich erblickte Soldaten in Badehose, auch Frauen und Kinder. Man trank Bier und reichte Zigaretten herum. Mein Blick fiel auf eine Gruppe von Generalstabsoffizieren: Oberst von Schuler, der IIa, stand dort mit mehreren anderen Offizieren. Grafhorst, der Kompanieführer, ließ seine Männer Aufstellung nehmen. Es wurde jetzt mit einem Gewehr pro Juden geschossen, ein Schuss auf die Brust in die Herzgegend. Oft genügte das nicht, um den Verurteilten zu töten, dann musste ein Mann in die Grube klettern, um ihn zu erledigen; die Schreie mischten sich mit dem Geschwätz und Gelärme der Menge. Häfner, der die Aktion mehr oder minder offiziell befehligte, bekam einen roten Kopf. Zwischen den Salven traten Männer aus der Menge hervor und baten die Angehörigen der Waffen-SS, ihnen ihren Platz zu überlassen; Grafhorst erhob keine Einwände, und seine Männer reichten ihre Karabiner diesen Landsern, die ein oder zwei Schüsse abgaben, bevor sie sich wieder zu ihren Kameraden stellten. Grafhorsts SS-Männer waren ziemlich jung und ließen seit Beginn der Exekution eine gewisse Erregung erkennen. Wütend brüllte Häfner einen von ihnen an, der bei jeder Salve seine Waffe einem freiwilligen Soldaten überließ und ganz bleich zur Seite trat. Außerdem gab es zu viele ungenaue Schüsse, was zu einem erheblichen Problem wurde. Häfner unterbrach die Exekutionen und beriet sich mit Blobel undzwei Wehrmachtsoffizieren. Ich kannte sie nicht, aber nach der Farbe ihrer Kragenspiegel zu urteilen, handelte es sich um einen Kriegsrichter und einen Arzt. Dann ging Häfner zu Grafhorst und diskutierte mit diesem. Ich sah, dass Grafhorst Häfner widersprach, konnte aber nicht verstehen, was sie sagten. Schließlich ließ Grafhorst einen neuen Schub Juden bringen. Sie wurden mit dem Gesicht zur Grube aufgestellt, doch dieses Mal zielten die Schützen der Waffen-SS nicht auf die Brust, sondern auf den Kopf; das Ergebnis war entsetzlich: Das Schädeldach flog in die Luft, und den Schützen spritzte die Hirnmasse ins Gesicht. Einer der freiwilligen Wehrmachtsschützen übergab sich unter dem Spott seiner Kameraden. Grafhorst war krebsrot im Gesicht und beschimpfte Häfner, dann wandte er sich an Blobel, und die Debatte

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