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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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die Gesamtheit der Bevölkerung erfassen; und zwar aus-nahms-los.« Die anwesenden Offiziere reagierten fassungslos; mehrere setzten gleichzeitig zu sprechen an. Ungläubig erhob sich Callsens Stimme über den Lärm: »Alle?« – »Alle«, bestätigte Blobel. »Aber hören Sie, das ist unmöglich«, erwiderte Callsen. Seine Stimme klang fast flehentlich. Ich schwieg, es überkam mich wie eine große Kälte, Herr des Himmels, sagte ich mir, auch das werden wir nun tun müssen, es ist gesagt, und uns wird nichts anderes übrig bleiben, als es zu tun. Grenzenloses Grauen erfüllte mich, aber ich blieb ruhig, ließ mir nichts anmerken, atmete gleichmäßig weiter. Callsen machte weitere Einwände geltend: »Aber Standartenführer, die meisten von uns sind verheiratet, wir haben Kinder. Das kann nicht von uns verlangt werden.« – »Meine Herren«, Blobel schnitt ihm mit scharfer, aber ebenso tonloser Stimme das Wort ab, »es handelt sich um einen ausdrücklichen Befehl unseres Führers Adolf Hitler. Wir sind Nationalsozialisten und SS-Männer, wir werden gehorchen. Verstehen Sie doch: In Deutschland ließ sich die gesamte Judenfrage ohne Auswüchse und in Einklang mit den Erfordernissen der Menschlichkeit lösen. Aber als wir Polen eroberten, haben wir weitere drei Millionen Juden geerbt. Niemand weiß, was wir mit ihnen anfangen oder wohin wir sie bringen sollen. Hier, in diesem unendlich weiten Land, wo wir einen unbarmherzigen Vernichtungskrieg gegen die stalinistischen Horden führen, haben wir von Beginn an radikale Maßnahmen ergreifen müssen, um für die Sicherheit der Etappe zu sorgen. Ich glaube, Sie haben alle verstanden, wie notwendig und nützlich diese Maßnahmen sind. Wir haben nicht genügend Kräfte, um in jedem Dorf Patrouille zu gehen und gleichzeitig zu kämpfen; und wir können es uns nicht erlauben, potenzielle Feinde von solcher Gerissenheit und Arglist in unserem Rücken zu dulden. Im Reichssicherheitshauptamterörtert man die Möglichkeit, nach gewonnenem Krieg alle Juden in einem großen Reservat in Sibirien oder im Norden zusammenzufassen. Dann können sie in Ruhe leben und wir auch. Zuerst aber müssen wir den Krieg gewinnen. Wir haben schon Tausende von Juden exekutiert, und es sind immer noch Zehntausende von ihnen übrig; je weiter unsere Truppen vorrücken, desto mehr Juden werden es. Doch wenn wir die Männer erschießen, bleibt niemand, der Frauen und Kinder ernähren kann. Die Wehrmacht hat nicht die Mittel, um Zehntausende von nutzlosen Jüdinnen und ihre Gören zu ernähren. Wir können sie aber auch nicht verhungern lassen, das sind bolschewistische Methoden. Angesichts dieser Umstände ist es tatsächlich die humanste Lösung, sie zusammen mit ihren Männern und Söhnen in unsere Aktionen einzubeziehen. Außerdem wissen wir aus Erfahrung, dass die fruchtbaren Ostjuden die Brutstätte sind, aus der sich die Kräfte des jüdischen Bolschewismus und der kapitalistischen Plutokraten ständig erneuern. Wenn wir einige am Leben lassen, werden diese Produkte der natürlichen Zuchtwahl zum Ursprung eines Erneuerungsprozesses werden, der für uns noch gefährlicher werden könnte als die gegenwärtige Bedrohung. Die Judenkinder von heute sind die Saboteure, Partisanen und Terroristen von morgen.« Bedrückt schwiegen die Offiziere; ich sah, wie Kehrig ein Glas nach dem anderen hinunterschüttete. Blobels blutunterlaufene Augen waren glasig, vom Alkohol verschleiert. »Wir sind alle Nationalsozialisten«, fuhr er fort, »SS-Männer im Dienst an Volk und Führer. Ich darf Sie daran erinnern, dass Führerworte Gesetzeskraft haben . Sie müssen der Versuchung widerstehen, menschlich zu sein.« Blobel war keine Geistesleuchte; auf diese markigen Formulierungen war er sicherlich nicht selbst gekommen. Trotzdem glaubte er an sie; noch wichtiger, er wollte an sie glauben, und er gab sie seinerseits an die Menschen weiter, die ihrer bedurften, an die, denen sie helfenkonnten. Für mich waren diese Worte nicht von großem Nutzen, ich konnte nicht andere für mich denken lassen, ich musste mir meine Gedanken selber machen. Aber es fiel mir schwer, mir dröhnte der Kopf, ein unerträglicher Druck, ich wollte schlafen gehen. Callsen spielte mit seinem Trauring, ich war mir sicher, dass er sich dessen nicht bewusst war; er wollte etwas sagen, besann sich aber anders. »Schweinerei, das ist eine große Schweinerei«, murmelte Häfner, und niemand widersprach ihm. Blobel schien leer zu sein, seinen Vorrat

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