Die Wohlgesinnten
an Ideen erschöpft zu haben, doch alle spürten, wie die Macht seines Willens uns noch gebannt und gepackt hielt, so wie ihn der Wille anderer gepackt hielt. In einem Staat wie dem unseren war jedem seine Rolle zugewiesen: Du bist das Opfer und du der Henker, und niemand hatte die Wahl, niemand wurde um sein Einverständnis gebeten, weil alle austauschbar waren, die Opfer wie die Henker. Gestern hatten wir jüdische Männer getötet, morgen würden es Frauen und Kinder sein, übermorgen wieder andere; und uns würde man, wenn wir unsere Rolle gespielt hätten, ersetzen. Deutschland liquidierte seine Henker zumindest nicht, im Gegenteil, es kümmerte sich um sie, anders als Stalin mit seinem krankhaften Hang zu Säuberungen; aber auch das lag in der Logik der Sache. Für die Russen wie für uns zählte der Mensch nicht, die Nation, der Staat waren alles, insofern war der eine das Spiegelbild des anderen. Auch die Juden hatten dieses starke Gemeinschaftsgefühl, sahen sich als Volk: Sie beweinten ihre Toten, sie begruben sie, wenn sie konnten, und sprachen das Kaddisch; doch solange ein einziger am Leben blieb, lebte Israel. Das war zweifellos der Grund, warum sie unsere bevorzugten Feinde waren, sie waren uns zu ähnlich.
Es handelte sich nicht um ein Humanitätsproblem. Natürlich gab es Menschen, die unsere Aktionen im Namen religiöser Werte kritisieren mochten, aber zu denen gehörte ich nicht, überhaupt dürfte es in der SS nicht viele von ihnengegeben haben; oder im Namen demokratischer Werte, aber über das, was sich Demokratie nennt, waren wir ja in Deutschland hinaus, jedenfalls seit einiger Zeit. Blobels Argumente waren gar nicht so dumm: Wenn der höchste Wert das Volk ist, zu dem man gehört, und wenn der Wille dieses Volkes in seinem Führer verkörpert ist, dann, in der Tat, haben Führerworte Gesetzeskraft. Trotzdem war es von entscheidender Bedeutung, die Notwendigkeit der Führerbefehle für sich selbst zu verstehen und anzunehmen: Wenn man ihnen bloß aus preußischem Gehorsam, aus knechtischer Gesinnung folgte, ohne sie zu verstehen und zu akzeptieren, das heißt, ohne sich ihnen zu unterwerfen, war man lediglich ein Schaf, ein Sklave und kein Mensch. Wenn sich der Jude dem Gesetz unterwarf, spürte er, dass das Gesetz in ihm lebte, und je schrecklicher, härter, anspruchsvoller es war, desto teurer war es ihm. Genau das sollte auch der Nationalsozialismus sein: ein lebendiges Gesetz. Töten war schrecklich; die Reaktion der Offiziere zeigte es deutlich, auch wenn nicht alle Konsequenzen aus ihrer eigenen Reaktion zogen; und wer es nicht schrecklich fand zu töten, einen Mann, sei er bewaffnet oder nicht, zu töten, eine Frau und ihr Kind, der war nicht besser als ein Tier, unwürdig, einer Gemeinschaft von Männern anzugehören. Aber vielleicht war auch dieses Schreckliche notwendig; und in diesem Falle galt es, sich dieser Notwendigkeit zu unterwerfen. Unsere Propaganda wiederholte ohne Unterlass, dass die Russen Untermenschen seien; doch ich weigerte mich, das zu glauben. Ich hatte gefangene Offiziere verhört, Kommissare, und ich konnte mich der Einsicht nicht verschließen, dass auch sie Menschen wie wir waren, Menschen, die nur das Beste wollten, die ihre Familie und ihr Vaterland liebten. Trotzdem hatten diese Kommissare und Offiziere den Tod von Millionen ihrer eigenen Landsleute verschuldet, sie hatten Kulaken deportiert, die ukrainische Landbevölkerung verhungernlassen, die Bourgeois und Abweichler unterdrückt und erschossen. Unter ihnen gab es natürlich Sadisten und Verrückte, aber auch gute Menschen, ehrliche und anständige, die aufrichtig das Beste für ihr Volk und die Arbeiterklasse wollten, und wenn sie irrten, so blieben sie doch guten Glaubens. Auch sie waren größtenteils überzeugt von der Notwendigkeit dessen, was sie taten, sie waren nicht alle Verrückte, Opportunisten und Kriminelle wie dieser Kieper; auch bei unseren Feinden vermochte sich ein guter und ehrlicher Mensch davon zu überzeugen, dass er schreckliche Dinge tun müsse. Was man jetzt von uns verlangte, stellte uns vor das gleiche Problem.
Am nächsten Tag wachte ich verstört auf, als hätten sich Hass und Trauer in meinem Kopf festgefressen. Ich suchte Kehrig auf und schloss die Tür seines Büros hinter mir: »Kann ich Sie sprechen, Sturmbannführer?« – »Worum geht es denn, Obersturmführer?« – »Um den Vernichtungsbefehl des Führers.« Er hob seinen Vogelkopf und betrachtete mich durch
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