Die Wohlgesinnten
seine Nickelbrille: »Da gibt es nichts zu diskutieren, Obersturmführer. Im Übrigen reise ich sowieso ab.« Er forderte mich mit einer Handbewegung auf, Platz zu nehmen. »Sie verlassen uns? Wie das?« – »Das habe ich dank der Vermittlung eines Freundes mit Brigadeführer Streckenbach geregelt. Ich kehre nach Berlin zurück.« – »Wann?« – »Bald, in einigen Tagen.« – »Und Ihr Nachfolger?« Er zuckte die Achseln: »Der kommt, wenn er kommt. In der Zwischenzeit schmeißen Sie den Laden.« Er fixierte mich von Neuem: »Hören Sie, wenn Sie ebenfalls fortwollen, das lässt sich arrangieren. Ich kann Ihretwegen mal bei Streckenbach in Berlin vorsprechen, wenn Sie es wünschen.« – »Danke, Sturmbannführer, aber ich bleibe.« – »Und wozu?«, fragte erheftig. »Um wie Häfner oder Hans zu enden? Um sich weiter in diesem Schmutz zu suhlen?« – »Sie sind doch auch bis jetzt geblieben«, wandte ich vorsichtig ein. Er lachte trocken auf: »Ich habe meine Versetzung schon im Juli beantragt. In Luzk. Aber Sie wissen ja, wie das ist. So etwas braucht seine Zeit.« – »Ich finde es sehr schade, dass Sie gehen, Sturmbannführer.« – »Ich nicht. Was sie da vorhaben, ist vollkommen verrückt. Und ich bin nicht der Einzige, der so denkt. Schulz, vom Einsatzkommando 5, ist zusammengeklappt, als er vom Führerbefehl erfahren hat. Er hat um seine sofortige Versetzung gebeten, und der Obergruppenführer war einverstanden.« – »Vielleicht haben Sie Recht. Aber wenn Sie gehen, wenn Oberführer Schulz geht, wenn alle anständigen Männer gehen, bleiben nur noch die Schlächter, der Abschaum. Das können wir doch nicht zulassen.« Angewidert verzog er das Gesicht: »Weil Sie glauben, Sie ändern etwas, wenn Sie bleiben? Sie allein?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, Doktor, folgen Sie meinem Rat und gehen Sie. Überlassen Sie das Schlachten den Schlächtern.« – »Nochmals vielen Dank, Sturmbannführer.« Ich schüttelte ihm die Hand und ging hinaus. Ich ging zum Gruppenstab, um Thomas aufzusuchen. »Kehrig ist ein Schlappschwanz«, stieß er kurz und bündig hervor, als ich ihm von dem Gespräch berichtete. »Schulz genauso. Auf Schulz haben wir schon seit einiger Zeit ein Auge. In Lemberg hat er eigenmächtig Verurteilte frei gelassen. Umso besser, wenn er geht, solche Typen brauchen wir nicht.« Er musterte mich nachdenklich. »Natürlich ist das schrecklich, was man da von uns verlangt. Aber du wirst sehen, wir schaffen das.« Seine Miene wurde ernst. »Ich persönlich halte es für keine glückliche Lösung. Das ist eine improvisierte Maßnahme, aus der Not geboren, wegen des Krieges. Wir müssen diesen Krieg rasch gewinnen; danach können wir die Dinge in Ruhe erörtern und planvolle Entscheidungen treffen. Dann können wirauch differenziertere Ansichten berücksichtigen. Im Krieg ist das unmöglich.« – »Glaubst du, er wird noch lange dauern? Nach fünf Wochen hätten wir in Moskau sein sollen. Nun sind es schon zwei Monate, und wir haben noch nicht einmal Kiew oder Leningrad genommen.« – »Das lässt sich schwer sagen. Zweifellos haben wir ihr Industriepotenzial unterschätzt. Jedes Mal, wenn wir glauben, ihre Reserven wären erschöpft, werfen sie uns frische Divisionen entgegen. Aber jetzt dürften sie am Ende sein. Und dann wird die Entscheidung des Führers, uns Guderian zu schicken, die Front rasch wieder in Bewegung bringen. Die Heeresgruppe Mitte hat seit Anfang des Monats vierhunderttausend Gefangene gemacht. Und bei Uman sind wir auf dem besten Wege, zwei Armeen einzukesseln.«
Ich kehrte zum Kommando zurück. Im Kasino war nur Jakow, Bohrs kleiner Jude, und spielte Klavier. Ich setzte mich auf eine Bank und hörte zu. Er spielte Mozart, das Andante einer seiner Sonaten, es schnitt mir ins Herz und stürzte mich noch tiefer in meine Traurigkeit. Als er fertig war, fragte ich ihn: »Jakow, kennst du Rameau? Couperin?« – »Nein, Herr Offizier. Was ist das?« – »Französische Musik. Du musst sie lernen. Ich werde versuchen, die Noten zu besorgen.« – »Ist sie schön?« – »Vielleicht die schönste Musik überhaupt.« – »Schöner als Bach?« Ich dachte nach. »Fast so schön wie Bach«, räumte ich ein. Dieser Jakow mochte zwölf Jahre alt sein, aber er hätte in jedem Konzertsaal Europas spielen können. Er stammte aus der Gegend von Czernowitz und war in einer deutschsprachigen Familie aufgewachsen; nach der Besetzung der Bukowina im Jahr 1940 fand er sich plötzlich in der
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