Die Wohlgesinnten
keinen deutschen Soldaten. An den Straßenecken vereinigten sich diese Menschenbäche, schwollen an und setzten ihren Lauf fort, ohne Strudel und Wogen. Wir fuhren den Hügel hinter dem Bahnhof hinauf und gelangten an der Ecke des großen Botanischen Gartenswieder auf den Boulevard. Dort hielt sich eine Gruppe deutscher Soldaten mit einigen ukrainischen Hilfswilligen auf und ließ ein ganzes Schwein an einem riesigen Spieß braten. Es roch sehr verlockend, die vorbeiziehenden Juden betrachteten es gierig, und die Soldaten machten sich lachend über sie lustig. Ich ließ halten und stieg aus. Die Menschen strömten aus allen Querstraßen herbei und vereinigten sich mit dem zentralen Strom wie Wasserläufe, die in einen Fluss münden. Von Zeit zu Zeit kam der endlose Zug zum Stillstand, dann setzte er sich wieder mit einem Ruck in Bewegung. Vor mir führten alte Frauen mit Zwiebelgirlanden um den Hals kleine Buben mit Rotznasen an der Hand, ein kleines Mädchen stand zwischen mehreren Einweckgläsern, die höher gestapelt waren als es selbst. Ich hatte den Eindruck, dass es vor allem Alte und Kinder waren, aber es ließ sich schwer beurteilen. Die gesunden Männer waren vermutlich zur Roten Armee eingezogen worden oder geflohen. Auf der rechten Seite, vor dem Botanischen Garten, lag ein Leichnam im Rinnstein, einen Arm vor dem Gesicht; die Menschen gingen vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Ich trat zu den Soldaten, die sich um das Schwein drängten: »Was ist passiert?« Ein Feldwebel grüßte und antwortete: »Ein Krawallmacher, Herr Obersturmführer. Er hat rumgeschrien und die Menge aufgewiegelt, indem er die Wehrmacht verleumdete. Wir haben ihm gesagt, er soll den Mund halten, aber er hat einfach weitergeschrien.« Abermals betrachtete ich die Menge: Die Menschen erschienen friedlich, ein wenig beunruhigt vielleicht, aber passiv. Über mein Informantennetz hatte ich kräftig Gerüchte verbreiten lassen: Die Juden würden nach Palästina geschickt, kämen ins Getto, nach Deutschland, um zu arbeiten. Die von der Wehrmacht eingesetzten örtlichen Behörden hatten ihrerseits alle Anstrengungen unternommen, um eine Panik zu vermeiden. Ich wusste, dass es auch Gerüchte über Massaker gab, aber all diese Gerüchtehoben sich gegenseitig auf, die Leute wussten nicht mehr, was sie glauben sollten, und außerdem konnten wir auf ihre Erinnerungen an die deutsche Besetzung von 1918 setzen, auf ihr Vertrauen in Deutschland und auch auf ihre Hoffnung, die vergebliche Hoffnung .
Ich ging weiter. Meinem Fahrer hatte ich keine Anweisungen gegeben, aber er folgte dem Strom der Juden in Richtung Melnik-Straße. Noch immer waren kaum deutsche Soldaten zu erblicken, nur ein paar Kontrollpunkte an Straßenkreuzungen, etwa an der Ecke des Botanischen Gartens oder an der Kreuzung Artjomowsker- und Melnik-Straße. Dort sah ich zum ersten Mal an diesem Tag einen Zwischenfall. Feldgendarmen schlugen auf mehrere bärtige, nur mit Hemden bekleidete Juden mit langen Schläfenlocken ein, möglicherweise Rabbiner. Sie waren mit Blut verschmiert, ihre Hemden damit durchtränkt, Frauen schrien, in der Menge entstand große Unruhe. Dann packten die Feldgendarmen diese Rabbiner und führten sie fort. Ich betrachtete die Menschen. Sie wussten, dass diese Männer sterben würden, das erkannte ich an den verängstigten Blicken der Zurückbleibenden; aber sie hofften noch immer, dass es nur die Rabbiner, die Frommen, träfe.
Am Ende der Melnik-Straße, vor dem jüdischen Friedhof, verengten Panzersperren und Stacheldrahtverhaue die Fahrbahn, die von Wehrmachtssoldaten und ukrainischen Polizisten gesichert wurde. Hier begann die Postenkette; sobald die Juden durch diesen Engpass geschleust worden waren, konnten sie nicht mehr umkehren. Die Sammelstelle für Wertsachen folgte ein Stück weiter, links auf dem freien Platz vor dem riesigen christlichen Lukjanowskoje-Friedhof. Eine lange, ziemlich niedrige Ziegelmauer umgab die Nekropole; dahinter wurde der Himmel von hohen Bäumen verdeckt, die zur Hälfte kahl waren oder noch rot und gelb. Auf der anderen Seite der Degtjarowska-Straße hatte man eine ReiheTische aufgestellt, an denen die Juden vorbeidefilieren mussten. Dort stieß ich auf mehrere unserer Offiziere: »Hat es schon angefangen?« Häfner nickte in Richtung Norden: »Ja, schon seit einigen Stunden. Wo waren Sie? Der Standartenführer ist wütend.« Hinter jedem Tisch stand ein Unterführer des Kommandos, von einem Übersetzer und
Weitere Kostenlose Bücher