Die Wolfsjägerin: Roman (German Edition)
Billi, ihre Mutter und ihr Vater. Es war aufgenommen worden, als sie fünf gewesen war. Sie war zwischen ihren Eltern eingezwängt. Jamila blickte in die Kamera, aber Arthur schaute mit sichtlicher, ungehemmter Freude einfach seine Frau an. Er wirkte Jahrzehnte jünger, ohne graue Haare, mit glattem, sorglosem Gesicht. Billi grinste sie an, ein fünfjähriges Mädchen mit einer kleinen Lücke in der Mitte ihrer Milchzähne.
»Das ist ein altes Bild. Sie ist vor langer Zeit gestorben.«
Wassilissa starrte das Foto an und blickte dann zurück zu dem Karton. »Wessen Sachen sind das?«, fragte sie und hielt vorsichtig ihre Hände zurück.
»Die meines Freundes. Er hieß Kay.«
»Kay? War er wie du?«
Billi sah Wassilissa in die großen, sommerhimmelblauen Augen, die so ausdrucksvoll waren. »Nein, ich glaube, er war vielleicht wie du.«
Auf Kays Handy waren ein halbes Dutzend Ordner gespeichert. Sie hätte sie sich nicht ansehen sollen. Kay war tot, und sie musste über ihn hinwegkommen. Bald. Aber als sie den Blick über seine Habseligkeiten schweifen ließ, wusste sie, dass das nicht fair gewesen wäre. Weder Kay noch ihr selbst gegenüber. Er war das Beste an ihrem Leben gewesen.
»Erzähl mir von Karelien.«
»Wir hatten einen großen Garten, und meine Babuschka, meine Großmutter, hat mir die Namen aller Pflanzen und aller Blumen beigebracht.« Wassilissa wies auf den Topf mit den Zweigen und durchhängenden Stängeln auf dem Fensterbrett. »Chrysanthemen. Ihr solltet sie an einen sonnigen Platz stellen.«
»Wann bist du von dort weggegangen?«
»Ich war fünf. Ich wollte nicht. Aber es ist jemand gekommen.«
»Wer?«
Wassilissa schloss die Augen, und Billi konnte sehen, dass sie Angst hatte.
»Eine alte Dame. Nicht lieb wie meine Babuschka, sondern schrecklich, mit grünen Augen. Sie suchte nach mir.«
Olga. Also waren die Polenitsy damals schon hinter Wassilissa her gewesen.
»Meine Großmutter hat mir gesagt, dass ich mich verstecken sollte, aber sie hatte Angst. Sie sagte, dass die Frau zurückkommen würde und wir deshalb fliehen müssten. In der Nacht packten wir unsere Taschen und kamen hierher, weil wir glaubten, dass wir hier sicher sein würden. Ich vermisse sie. Ich vermisse meine Großmutter.« Wassilissa baumelte müßig und bekümmert mit den Beinen. »Sie sagen, ich werde Templerin.« Sie sah die Gemälde an der Wand an. »Sind das alles Templer? Diese alten Männer?«
»Ich bin Templerin.«
Wassilissa sah Billi neugierig an. »Was sind sie? Die Templer?«
Billi seufzte tief. Wo sollte sie anfangen? Sie hatte beinahe tausend Jahre Geschichte im Kopf. Kurzfassung oder Langfassung?
Kurz.
»Sie waren ursprünglich eine Gruppe von mittelalterlichen Rittern, die schworen, das Heilige Land gegen die Muslime zu verteidigen. So fing es an. Sie waren nur neun Männer.«
»Wie die Bogatyri, ja?«
»Du weißt über die Bogatyri Bescheid?«, fragte Billi.
Wassilissas Augen leuchteten auf. »Jeder in Russland weiß von ihnen! Die Bogatyri waren große Ritter. Meine Mutter hat mir immer Geschichten über sie vorgelesen. Sie haben gegen Drachen, böse Hexen, Mongolen und Muslime gekämpft. Gegen alle bösen Leute.«
Billi lachte. »Meine Mutter war Muslimin.«
Wassilissa wurde rot. »Bist du auch eine?«
Billi zuckte mit den Schultern. Sie konnte auf Latein, Griechisch, Englisch und Arabisch beten. Sie wusste, in welcher Richtung Mekka lag, und kannte die Psalmen. Spielte das für Gott wirklich eine Rolle?
»Wie auch immer, zurück zu den Templern.« Sie stand auf und nahm ein Bild von der Wand. Es war eine Abbildung von Jerusalem, ein kunstvoller mittelalterlicher Holzschnitt der Heiligen Stadt. Sie deutete auf eine Kuppel im Zentrum. »Die Ritter kämpften ein paar Hundert Jahre lang gegen die Muslime. Aber dann wurden sie von ihren Mitchristen verraten, vom Papst selbst. Danach entsagten die Überlebenden den Kreuzzügen und entschlossen sich zu einem neuen Krieg – einem, den sie als Bataille Ténébreuse bezeichnen. Das bedeutet ›der Dunkle Kampf‹. Statt gegen andere Menschen zu kämpfen, kämpfen wir gegen Unholde: Werwölfe. Geister. Blutsauger. Um Ritter zu werden, muss man einem dieser Monster entgegentreten. Das nennt man die Feuerprobe.«
»Musstest du das auch tun?«
Billi nickte. Alex Weeks. Der Geist eines sechsjährigen Jungen. Wenn sie daran dachte, was sie hatte tun müssen, drehte sich ihr noch immer der Magen um.
»Magst du nicht gern Templerin sein,
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