Die Wolfsjägerin: Roman (German Edition)
etwas sehr Ernstes.
Sie watet ins eiskalte Wasser, greift nach ihm. Ihr Herz klopft so schnell, dass sie glaubt, dass es bersten wird. Es kümmert sie nicht. Sie denkt nur daran, wie es sein wird, ihn wieder zu spüren, ihn zu berühren und diese Lippen zu küssen, diesen letzten Atemzug zurückzuhauchen, den sie ihm gestohlen hat, und das Loch zu füllen, das sich in ihrem Herzen geöffnet hat, als er sie verließ. Billi reckt sich, aber Kay bleibt immer unmittelbar außerhalb der Reichweite ihrer zitternden Fingerspitzen.
»Ich kann dich nicht erreichen«, sagt sie, und Verzweiflung schwingt in ihren Worten mit. Wenn sie ihn nur zurückhaben kann, wird alles in Ordnung sein.
»Nein, Billi. Du kannst nicht kommen.«
Sie ignoriert ihn, pflügt tiefer ins Wasser. Die Kälte steigt ihr die Beine hoch, aber sie kämpft sich weiter auf ihn zu.
»Billi, ich bin hier, um Lebewohl zu sagen.«
»Nein!« Billi zittert. Die Kälte fährt ihr in die Adern, verlangsamt ihr Herz, während es in Schlaf fällt. »Ich will bei dir sein, Kay. Verstehst du das nicht?«
»Die Toten sollten sich nicht lange aufhalten, Billi. Wende dich jetzt den Lebenden zu.«
Billi schreit und greift nach ihm, aber Kay ist jetzt auf der gegenüberliegenden Seite, außerhalb der Reichweite irgendeines Sterblichen.
»Warum bist du dann hier?«, ruft sie.
Kay schüttelt traurig den Kopf. »Aber, Billi, ich bin nicht hier. Nicht mehr.« Still wie der Tod legt Kay die Hände von beiden Seiten an sein Gesicht.
Es löst sich. Er legt es ans Ufer des Wassers, und statt Kay sieht Billi nun Wassilissa. Sie ist ein kleines Mädchen, das bis zur Taille im Styx watet. Billi streckt sich, um ihre Hand zu ergreifen, kann es aber nicht.
»Komm heraus, Wassilissa. Du solltest nicht hier sein«, sagt Billi. Sie schluchzt. Kay sollte auch nicht hier sein. Noch längst nicht.
Wassilissa legt sich die Hände von beiden Seiten ans Gesicht. Ihr Gesicht löst sich.
Billi erwachte; das Blut rauschte ihr in den Ohren. Sie schnappte nach Luft und lag mit schweißüberströmtem Körper da.
War das wirklich Kay gewesen?
Sie hatte schon früher von ihm geträumt, natürlich hatte sie das, aber nicht so. Man konnte doch in Träumen nichts riechen, oder? Der Geruch war das Intensivste am ganzen Traum gewesen. Sie konnte das kalte Wasser beinahe schmecken, und sie bekam eine Gänsehaut auf den Armen, als sie sich an die tiefe Höhle erinnerte, in die sie eingedrungen war.
Sie wischte sich das Gesicht am Bettlaken ab. Ein Traum. Sie war kein Medium. Ihre Träume hatten nichts zu bedeuten.
Oder etwa doch?
Pfannen und Teller klapperten laut in der Küche. Der Lärm tönte durchs Treppenhaus empor; irgendjemand war damit beschäftigt, einen Mitternachtsimbiss zuzubereiten.
Warum konnten sie nicht einfach still sein? Billi robbte zur Wand und versuchte, das Geräusch zu dämpfen, indem sie sich ein Kopfkissen über den Kopf zog. Es nützte nichts. Jetzt war sie wach. Schläfrig warf sie einen Blick auf die Uhr: drei Uhr morgens. Das mussten Gwaine und Mordred auf Wache sein. Sie übernahmen die Schicht von zwölf bis vier. Warum brachten sie sich keine belegten Brote mit wie alle anderen? Sie setzte sich auf und strich sich die Haare aus dem Gesicht.
Diese ständige – und lautstarke – Wachsamkeit würde ihr erhalten bleiben, bis die Polenitsy etwas unternahmen und sich Wassilissa holten. Billi fand, dass sie das Mädchen lieber anderswo hätten verstecken sollen, aber Arthur sagte, dass es ihnen einen Heimvorteil verschaffte, im Temple zu bleiben. Sie würden warten und die Werwölfe zu sich kommen lassen. Aber das Warten war nicht einfach. Billi musste etwas unternehmen, um ihren Verstand beschäftigt zu halten.
Sie sprang aus dem Bett und zog Kays Karton hervor. Sie hatte das hier zu lange aufgeschoben. Sie trug ihn nach oben ins Arbeitszimmer. Auf dem Fensterbrett entdeckte sie einen weiteren von Arthurs Versuchen, etwas Leben ins Haus zu bringen, einen großen, runden, glasierten Blumentopf, in dem Gott weiß was wuchs. Im Augenblick sah es nur nach ein paar kahlen Zweigen aus, die in einem Haufen feuchter Erde steckten. Billi setzte Kays Karton auf Arthurs Schreibtisch ab. Mondlicht schien durch die kleinen Fenster, die auf die Middle Temple Lane hinausgingen. Betagte Bücherregale drängten sich an den Wänden, und über ihnen hingen alte Porträts der früheren Templergroßmeister und Gemälde mit lang vergangenen Templerschlachten. Akkon. Hattin.
Weitere Kostenlose Bücher