Die Wuensche meiner Schwestern
Tappan Square gestanden.
Im Wohnzimmer ihrer Schwiegereltern hatte sie mit Abscheu an das fürchterliche, zerfallende alte Haus ihrer Kindheit gedacht und daran, wie ihre Familie ihre Armut und ihr Leid im Namen eines bloßen Hirngespinsts bereitwillig akzeptiert hatte. Und doch saß Bitty jedes Mal, wenn sie Craigs Eltern besuchten – was nicht oft vorkam –, mit durchgedrücktem Rücken auf dem geschmackvollen Sessel in der makellosen Fullen-Villa und sehnte sich nur nach Mariah und Aubrey und Meggie.
Sollen wir kurz bei ihnen vorbeischauen?, hatte Craig stets gefragt, als er solche Dinge noch tat. Und Bitty hatte jedes Mal abgelehnt. Sie konnte sich nicht dazu überwinden.
All die Jahre hatte sie geglaubt, sie sei allein. Ihre Schwestern schienen so unwiederbringlich verloren wie die Vergangenheit. Aber letzte Nacht hatten sie ihr geholfen, obwohl sie diese Hilfe gar nicht gewollt hatte. Sie hatten ihr Halt gegeben wie eine Gipsschiene einem verletzten Knochen. Und plötzlich erkannte sie mit einer Gewissheit, die ihr ganzes Herz überschwemmte: Sie konnte alles tun. Oder zumindest konnte sie tun, was getan werden musste – denn sie war nicht mehr allein und war es auch nie gewesen.
Sie vernahm die Stimme ihres Mannes durch die Lautsprecher ihres Handys, wie Rauch drang sie durch die Türritzen des Schlafzimmers. Sie drückte sich von der Wand ab und ging in die Küche, wo sie sich eine Flasche Wein aufmachte.
* * *
In der Dunkelheit klangen Geräusche schärfer, härter, kristallener, dachte Aubrey. Die alten Heizkörper der Strickerei zischten und gluckerten, die Fenster klapperten im Wind oder beim Vorbeifahren eines Lastwagens. Sie griff nach ihrem Kissen, steckte es sich unter den Brustkorb und schmiegte sich daran. Sie hatte sich versichert, es würde nicht allzu schmerzhaft sein, Vic zu verlieren. Sie hatte sich gesagt, dass sie darauf vorbereitet war. Doch nun stand sie mit nichts als einem Regenschirm zu ihrem Schutz inmitten eines Sturmes. Vic war, wie sich herausgestellt hatte, nicht ihr bedingungsloser Verteidiger. Er würde nicht mit ihr zusammen durch dick und dünn gehen.
Es war so ungerecht. Jahrelang hatte sie ihre Hoffnung unter Verschluss gehalten, hatte sie ganz hinten im Schrank verstaut und niemals ans Tageslicht gelassen. Dann hatte Vic sie mit bemerkenswerter Leichtigkeit aus ihrem Versteck befreit – und nun wusste Aubrey nicht, wie sie sie jemals wieder zu einem lammfrommen Gefangenen machen sollte.
Sie kam in dieser Nacht nicht zur Ruhe. Jedes Mal, wenn sie sich befahl, nicht an Vic zu denken, musste sie erst recht an ihn denken. Immer wenn sie sich schwor, sie würde keine einzige Sekunde mehr damit verschwenden, sich vor Sehnsucht nach etwas zu verzehren, das nicht sein konnte, sehnte sie sich noch mehr danach. In der Dunkelheit gab es Momente, in denen sie sich wünschte, sie könnte alles zurücknehmen, könnte den ganzen Abend noch einmal von vorn beginnen. In der überarbeiteten Version ihres zweiten Dates würde sie mit Bestimmtheit sagen: »Nein, ich setze mich nicht auf die Tribüne.« Sie würde ihn mit dem Versprechen einer anderen Art von Unterhaltung fortlocken, langsam an ihrem Latte nippen und ihn über den Rand ihres Bechers hinweg anblicken, ihn dabei zusehen lassen, wie sie sich mit der Zunge über die Lippen fuhr. Sie würde ihn mitnehmen – Wohin? Indie Strickerei? Oder würden sie zu ihm gehen? – und ihm die Jacke von den Schultern ziehen, das T-Shirt über die Arme hochschieben und ihn umschließen, ihn besitzen, ihn binden, als könne Sex wie ein Zauber wirken, der ihn dazu brachte, sie für immer blind zu lieben.
Aber die Realität war keine Phantasie: Sie wollte nicht von Vic geliebt werden, wenn er sie nicht ganz und gar liebte, wenn er sie nicht für das lieben konnte, was sie wirklich war. Bis zu diesem Abend schien ihr Vic der einzige Mann in ganz Tarrytown zu sein, der in der Lage sein könnte, mit einer Hüterin der Strickerei zusammen zu sein. Er war ohne Vorurteile und wusste doch, wo er stand. Er liebte Bücher so sehr wie Aubrey, und er hörte gern zu, wenn sie stundenlang darüber redete, was sie gerade las und was sie noch alles lesen wollte. Wie Aubrey erleichtert festgestellt hatte, hatte er keine Angst vor der Magie der Van Rippers, keine Angst vor dem Stricken, keine Angst davor, mit einer mächtigen Frau zusammen zu sein, und als wäre das alles noch nicht genug, um Aubrey Hals über Kopf in ihn verliebt zu machen, war er der
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