Die Wuensche meiner Schwestern
einzige Mensch in Tarrytown, der genügend Selbstbeherrschung aufbrachte, nicht das Gesicht zu verziehen, wenn er in ihre beängstigend blauen Augen blickte. Vic schien wie für sie geschaffen zu sein. Doch es wäre falsch von ihr gewesen, ihn weiter glauben zu lassen, ein gemeinsames Leben mit ihr in Tarrytown würde einfach und ungefährlich sein. Sie hätte nicht damit leben können, wenn Vic irgendwann bewusst geworden wäre, dass sich ein Großteil der Einwohner Tarrytowns ihretwegen gegen ihn gewandt hatte, dass er seine eigene Vorstellung von Glück aufgegeben hatte, um bei ihr zu sein, und dass ein einmal erbrachtes Opfer nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte.
Als er von der Strickerei wegfuhr, hätte er ebenso gut eine Kette an die Stoßstange seines Transporters binden und ihr Herz daran hinter sich her schleifen können.
Sie zwang sich mit Gewalt in den Schlaf, als könnte sie ihre Verzweiflung damit kleiner machen. Zuerst erkannte sie den Laut, der durch ihr Fenster drang, nicht als ihren Namen. Sie hörte nur die Vokale, ein langgezogenes iiieee . Doch langsam drang das Geräusch wie ein Scheinwerfer in ihre düsteren Gedanken, wie ein Lichtstrahl im Nebel, und sie folgte ihm hinaus, folgte ihm, bis sie endlich verstand, dass der Laut von jemandem stammte, der von draußen nach ihr rief. Vorsichtig zog sie die Vorhänge zurück und öffnete den Rollladen. Sie wusste, dass er dort stand, noch bevor sich ihre Augen an das ungleichmäßige Licht draußen gewöhnt hatten, bevor sie seine Umrisse im Garten schwach erkennen konnte, die zur Hälfte im goldenen Schein der Straßenlaterne gebadet waren.
»Vic?«
Er gestikulierte mit ungestümen Bewegungen, die sie nicht entziffern konnte. Sie hielt ihren Zeigefinger in die Luft: eine Sekunde.
Aubrey ließ die Jalousie nach unten fallen und eilte durchs Zimmer. Sie wickelte sich einen Wollschal über ihrem langen Nachthemd um die Schultern, schnappte sich Socken und steckte ihre Füße in ein Paar Stiefel. Die Aufregung schnürte ihr die Brust zu, und vor Erwartung wurde ihr ganz schwindlig. War er gekommen, um ihr zu erklären, weshalb er keine Zukunft für sie beide sehen konnte, damit sie sich nicht einfach von ihm im Stich gelassen fühlte? Oder – sie wagte kaum, zu hoffen – aus einem anderen Grund?
So schnell sie konnte, rannte sie die Treppe hinunter und hinaus in die Nacht. Sie traf ihn auf dem Rasen. Die Luft war kalt, und die Feuchtigkeit des Flusses lag darin. Um sie herum bemerkte sie eine Bewegung, die sie zunächst nicht zuordnen konnte – dann erkannte sie, dass es Schnee war, der erste Schnee des Jahres, der beinahe unsichtbar vom Himmel fiel.
Sie wickelte sich den Schal fester um den Hals. »Was machst du denn hier?«
»Ich musste dich sprechen. Persönlich.« Seine Augen leuchteten im Schein der Straßenlaterne. Er war so schön, dass es ihr das Herz brach. Und ihr kam der Gedanke, dass sie vielleicht besser kurz in den Spiegel hätte sehen sollen, bevor sie das Haus verließ. Ihr Haar war vermutlich ein gekräuseltes blondes Kuddelmuddel, und ihre Augen mussten geschwollen und gerötet sein. Doch falls es Vic auffiel, schien es ihm nichts auszumachen. »Tut mir leid, dass ich nicht erst angerufen habe. Ich hatte Angst, du würdest sagen, ich solle nicht kommen.«
»Okay«, erwiderte sie.
»Du frierst.«
Sie leugnete es nicht.
»Und du … weinst?«
Sie schlang sich die Arme um die Brust und wandte den Blick ab.
»O Gott – Aub.« Er hob seine Hände, um sie zu berühren, hielt jedoch in der Bewegung inne. »Ich bin so ein Idiot.«
Sie richtete sich auf. Leicht überrascht stellte sie fest, dass ihr Herz sich zwar unendlich nach ihm sehnte, sie aber dennoch nicht bereit war, ihm vor Dankbarkeit die Füße zu küssen oder die harte Realität auszublenden. Noch eine Enttäuschung könnte ihr Herz nicht verkraften.
»Ich möchte, dass du weißt, dass ich keine Angst vor Ruth Ten Eckye habe«, fuhr er fort. »Und wenn irgendjemand in Tarrytown schlecht über dich oder über deine Familie redet, dann ist mir das egal.«
»Das sagst du jetzt.« Sie warf ihm einen Blick zu. »Aber was ist im Winter, wenn du das Haus heizen und Lebensmittel kaufen musst und nicht genügend Kunden hast, um diese Dinge bezahlen zu können?«
»Das spielt keine Rolle.«
»Doch, das tut es. Glaub mir. Ich weiß, wie es ist, wenn es hinten und vorn nicht reicht, wenn man sich entscheiden muss, ob man nun Gemüse oder Heizöl kauft. Und das
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