Die Wuensche meiner Schwestern
Leinwand verteilt wurden, bis man, wenn man die Augenzusammenkniff und den Kopf schief legte, langsam das ganze Bild erahnen konnte.
Mit dem Geld, das Helens Mann in Stony Point errungen hatte, erbauten sie am Rand eines grasbewachsenen Platzes in Tarrytown die Strickerei. Helens Mann wurde zum zuverlässigen Sekretär eines Rechtsanwalts, der ihn mehr wie einen Freund als wie einen Angestellten behandelte. Ihre Söhne kamen zur Welt und wurden groß, zogen aus, um zu heiraten, zur See zu fahren oder am Krieg teilzunehmen. Ihrer einzigen Tochter, die ein Muttermal in der exakten Form eines Sterns auf der Wange hatte, brachte Helen das Stricken bei. Eines Abends, als ihre Kinder längst erwachsen und aus dem Haus waren, Helens Haar bereits ergraut war und die Leute über einen Krieg zwischen dem Norden und dem Süden tuschelten, schied ihr Mann leise und ohne Vorwarnung aus dem Leben, fiel einfach während des Schlafens in einen noch tieferen Schlaf. Betrübt, aber auch dankbar für alles, was ihr vergönnt gewesen war, zog Helen ihre Trauerkleidung an. In dem mit schwarzen Flecken übersäten Spiegel, der ihrer Familie schon seit zwei Generationen gehörte, sah sie sich selbst alt werden.
Ohne Ehemann und ohne Kinder, die sie noch brauchten, widmete Helen sich ganz dem Stricken, bis die Einwohner Tarrytowns ihr Haus schließlich nur noch die Strickerei nannten. Sowohl Frauen mit Dreck unter den Fingernägeln als auch Frauen, die in ihrem Leben noch keine einzige Teetasse hatten spülen müssen, kamen an ihre Tür. Sie hatten Gerüchte vernommen, hatten gehört, Helen könne ihnen helfen. Sie fragte sie: Was seid ihr zu geben bereit?, und versteckte daraufhin ihre Schätze. Sie blühte immer weiter auf – bis zu einem kühlen Oktobertag, als der Nordwind so kräftig blies, dass die Kerze, die sie auf das Fensterbrett gestellt hatte, verlosch.
Helens Tochter, die von ihrer Mutter in das Geheimnisdes Strickens eingeweiht worden war, kochte gerade eine Suppe auf dem neumodischen Herd in der Küche, als sie ihre Mutter schreien hörte. Es war ein unnatürlicher Laut. Sie eilte ins Wohnzimmer, wo sie Helen fand, die in Todesangst an die Wand starrte. Ihre Finger umfassten reglos die Nadeln. Der Blick aus ihren vom grauen Star milchigen Augen war jedoch fortan leer.
Was ist los?, fragte ihre Tochter. Doch Helen antwortete nicht. In der Tapete, im Brotkasten, unter den Türen – überall erkannte sie von nun an Teufel. Manchmal waren es Soldaten, manchmal Babys. Sie protestierte lautstark gegen sie; warf mit allem Möglichem nach ihnen, um sie fernzuhalten. Ihre Tochter lockte sie dann mit einer Tasse starken schwarzen Kaffees sanft in die Welt der Lebenden zurück. Doch Helen wurde Tag für Tag verwirrter und litt schreckliche Qualen, als streckten die Dämonen ihre Klauen aus der Hölle nach ihr aus, um ihre Seele durch die Dielen der Strickerei hinabzuziehen. Die Leute begannen zu tuscheln. Ihre Tochter versuchte mit aller Macht, ihrer Mutter das Irrenhaus zu ersparen, und bat Gott in ihren Gebeten um die Gnade eines raschen, ruhigen Todes.
Für die Frauen der Strickerei war es der Anfang vom Ende.
Kapitel 7
Strick drei Maschen rechts zusammen
Aubrey hatte nicht erwartet, dass Vic Oliveira am Morgen von Mariahs Begräbnis vor ihrer Tür stehen würde, obgleich sein Besuch nichts allzu Ungewöhnliches war. Seit er vor ein paar Monaten nach Tappan Square gezogen war, hatten Mariah und er sich angefreundet, und er war mit der Zeit in der Strickerei zum Mädchen für alles geworden. Er kam oft vorbei, um abzudichten, festzunageln, zu verschrauben, einzufetten, hochzuheben, zu verkeilen und zusammenzuschustern, was gerade nötig war. Als Aubrey ihn nun in guten Hosen und einem schwarzen Anzughemd mit einem Strauß spätblühender Sonnenblumen im Arm auf der Veranda stehen sah, riss die Naht an ihrem Herzen ein kleines Stückchen auf und weckte die Sehnsucht darin.
»Wie geht es dir?«, fragte Vic.
»Prima!«, erwiderte sie mit einer aggressiven Fröhlichkeit, die sie beide verblüffte. Ihr wurde klar, dass Höflichkeiten in einer Situation wie dieser nicht angebracht waren, also sagte sie ihm die Wahrheit: »Eigentlich, na ja, hast du schon mal eine Selleriestange zu lange im Kühlschrank gelassen?«
»Ja?«
»So fühle ich mich gerade.«
»Ich würde das gerne für dich reparieren«, meinte Vic. »Aber sogar extrastarkes Klebeband hat seine Grenzen.«
Er streckte die Hand mit den Blumen aus, und sie griff
Weitere Kostenlose Bücher