Die Wuensche meiner Schwestern
danach. Sonnenblumen waren perfekt für jemanden wie Mariah, die »Begräbnisblumen« wie Nelken, Lilien und Rosen immer gehasst hatte, weil sie ihr viel zu ernst erschienen. Vic musste das gewusst haben.
»Ich habe an dich gedacht«, fuhr er fort. »Wenn ich irgendetwas tun kann, um dir zu helfen …«
»Das ist lieb.« Sie riskierte einen kurzen Blick in sein Gesicht. Zwar wusste sie, dass ihre Augen ein scheußlicher Anblick waren – fremd und merkwürdig –, doch sie wollte ihn wenigstens ganz kurz ansehen, bevor sie die Lider wieder senkte.
»Das meine ich ernst«, bekräftigte er. »Was immer du brauchst.« Schallendes Gelächter drang aus dem Inneren der Strickerei und erfüllte sie wie ein nachhallender Glockenton. Vic warf einen Blick über Aubreys Schulter. »Störe ich?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Darf ich reinkommen?«
Im Wohnzimmer, das für frühere Generationen das Esszimmer gewesen sein mochte, hatte Bitty ihren Laptop eingeschaltet, da Mariahs alter Fernseher keine DVDs abspielte. Sie hatte einen Film für ihre Kinder eingelegt – etwas Leichtes und Lustiges, da schließlich allen klar war, dass es ein schwieriger Tag werden würde. Meggie hatte sich irgendwo im Haus verkrochen, und keiner wusste, was sie dort tat. Aubrey warf einen Blick auf Vic – seine langen Arme, seinen breiten Brustkorb – und fühlte sich auf einmal regelrecht selbstsüchtig. »Setzen wir uns doch eine Weile auf die Hollywoodschaukel auf der Veranda«, schlug sie vor.
Sie schloss die Haustür hinter sich, und sie setzten sich gemeinsam auf das verwitterte graue Holz der Schaukel. Aubrey hatte die Sonnenblumen auf ihrem schwarzen Rock abgelegt, auf Vics Oberschenkeln ruhte eine ominöseAktenmappe. Aubreys Handflächen waren ganz verschwitzt; ihr Herz flatterte – man konnte es nicht anders nennen –, schlug ihr gegen den Brustkorb wie ein Insekt, das wieder und wieder gegen ein Fenster flog. Sie atmete zur Beruhigung tief durch. Das geschah jedes Mal in Vics Gegenwart mit ihr, auch wenn er eigentlich gar nichts tat.
»Tut mir leid, dass ich das hier vor der Beerdigung anspreche«, begann er. »Ich wünschte, ich könnte damit warten.«
»Dass du was ansprichst?«
»Sind deine Schwestern hier?«
»Ja.«
»Mariah meinte, dass sie auftauchen könnten, wenn ihr einmal … du weißt schon … etwas zustoßen sollte. Ich wollte dich abfangen, solange sie hier sind.«
Aubrey wies mit dem Kinn auf die Mappe. »Was ist das?«
»Mariahs Letzter Wille und ihr Testament.«
»Ach, davon habe ich auch eine Kopie, in meinem Schlafzimmer.«
»Nein, hast du nicht.« Überrascht registrierte sie, dass er ihr den Arm um die Schulter legte. »Das hier ist ein neues Testament. Sie bat mich, es aufzubewahren. Tatsächlich hat sie mich sogar zum … Vollstrecker ernannt.«
»Dich?«, wiederholte Aubrey verwundert. Sie war davon überzeugt, dass Vic sie nicht anlog – er schien nicht der Typ dafür zu sein –, und doch konnte sie ihm nicht glauben. Es fiel ihr schwer, nicht an seine nackte Armbeuge in ihrem Nacken zu denken. »Weshalb dich?«
»Es geht um den Grundbesitz. In Mariahs Testament stehen ein paar Dinge, die ein bisschen … ich weiß nicht … ein bisschen mariahmäßig sind.« Er wandte den Blick auf das Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite, vor dem ein ausgeweidetes Sofa und ein kaputtes Babybettdarauf warteten, beseitigt zu werden. Dann schaute er Aubrey mit ernster Miene an. »Wir müssen deine Schwestern zusammenrufen«, erklärte er.
Aubrey hatte Vic zum ersten Mal in der Bibliothek gesehen, als sie gerade Mittagspause machte und sich von Jeanette erzählen ließ, welche neuen Bücher sie in falsche Regale gestellt und damit ins literarische Fegefeuer verbannt hatte, weil diese sexistisch oder rassistisch waren. Aubrey schluckte gerade einen Bissen hinunter, als Mariah unangekündigt mit Vic im Arm und einem Grinsen in der Größe eines Halbmondes im Gesicht in die Intimsphäre des Pausenraums der Bibliothekarinnen einmarschierte. Vic war einen Kopf größer als Mariah, dafür halb so breit und halb so alt. Sie hatte sich bei ihm eingehakt, als würde er einen Smoking und sie ein Ballkleid tragen.
»Aubrey, ich möchte dir unseren neuen Nachbarn vorstellen«, sagte sie. »Er hat ein Haus in Tappan Square gekauft. Er ist Brasilianer.«
»Eigentlich komme ich aus Queens.«
»Aber Brasilien liegt Ihnen im Blut! Oh, Sie müssen ihnen Ihren Namen nennen, Victor. Sie sprechen ihn so viel
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