Die Wuensche meiner Schwestern
hätte nicht erwartet, dass du so aufgeschlossen sein würdest.«
»Warum denn nicht?«
»Weil wir beide wissen, dass Stricken in unserer Familie mehr ist als nur eine Handarbeit.«
Bitty presste weiter Wassertröpfchen aus ihrem Haar. Aubrey konnte die Gedanken ihrer Schwester beinahe hören: Wie du meinst.
»Glaub bitte nicht, dass ich dir vorschreiben will, was du zu tun hast – aber ich finde, du solltest Nessa von der Magie erzählen. Nein, warte. Lass mich ausreden. Es ist ihr Erbe. Es ist unsere Tradition. Und besser, sie erfährt es von dir, als dass sie irgendwann zufällig von allein dahinterkommt.«
»Bitte erspar mir das«, erwiderte Bitty. »Ich würde lieber das Gespräch über die Bienchen und Blümchen noch achtmal wiederholen, als zu versuchen, Nessa die Strickerei zu erklären.«
»Was ist mit den Bienchen und Blümchen?« Meggie war ins Zimmer getreten. Sie hatte ihren Schlafanzug gegen einen grauschwarzen Pullover und verwaschene rosa Jeans ausgetauscht.
»Nessa hat den Turm entdeckt«, erklärte Aubrey.
Bitty schüttelte grinsend den Kopf. »Und anscheinend weiß sie jetzt auch, wie man strickt.«
»Aber Bitty will nicht, dass sie etwas über die Zauberei erfährt«, fügte Aubrey hinzu.
Meggie ließ sich auf Aubreys Bett plumpsen und lehnte sich zurück. »Wo liegt das Problem?«
»Das Problem ist, dass ich meinen Kindern keine falschen Hoffnungen machen will. Sie sollen nicht in dem Glauben aufwachsen, dass sie sich nur ganz fest etwas wünschen müssen, um es zu bekommen. Herrje – es ist grausam, seinen Kindern so etwas einzureden. Ich werde das meinen jedenfalls nicht antun.«
Aubrey konnte die Bitterkeit in der Stimme ihrer Schwester nicht überhören. Und sie fragte sich, was wohl vorgefallen sein mochte, das Bitty so fest davon überzeugt hatte, den Mythos der Strickerei als Hirngespinst abzutun. Vorsichtig fragte sie: »Wann hast du eigentlich aufgehört, an die Magie zu glauben?«
Bitty schnaubte. Sie erhob sich von der Bettkante und trat an den Schminktisch, auf dem Aubreys alte Haarbürste mit ihrem Griff aus Zinn und ihren weichen weißen Borsten lag. Bitty betrachtete sich im Spiegel, während sie damit durch ihr vor Feuchtigkeit dunkles Haar strich. »Es war kein einzelner fehlgeschlagener Zauber oder ein bestimmtes Ereignis, das mich vom Glauben an die Magie abgebracht hat. Es war eher so, dass ich sie nach und nach in Frage gestellt habe. Und die Sache mit Mr. Elazar hat dann das Fass zum Überlaufen gebracht.«
Aubrey erinnerte sich an Joel Elazar – für sie damals noch Mr. Elazar. Er war ihr noch jahrelang im Traum erschienen,mit seinem dichten silbernen Haar, seiner Taxifahrerkappe mit dem Hahnentrittmuster und seinen runden, unruhigen Augen. Mr. Elazar hatte Mariah wegen seiner dreißigjährigen Tochter aufgesucht. Die Ärzte hatten gesagt, dass sie nur noch wenige Monate zu leben hätte. Er kam mit einer schweren Schale aus geschliffenem Glas in die Strickerei, die in seiner Familie seit der Großen Depression wie ein Schatz gehütet worden war. Seine Eltern hatten in New York an der Grenze zur Armut gelebt und um Arbeit betteln müssen; sie führten einen Haushalt, in dem die Jüngeren sich nach den Älteren im selben Badewasser wuschen und in dem das Brot rationiert war. Immer war es ihnen jedoch gelungen, die Schale zu behalten, diesen einen halbwegs luxuriösen Gegenstand, den sie besaßen. Die Schale für ihre Tochter zu opfern war die Idee seiner Frau gewesen, und Mr. Elazar hatte so getan, als würde er ihr zustimmen. Doch er hatte seine eigenen Vorstellungen. Er war bereit, alles dafür zu opfern, dass seine Tochter leben konnte – er war bereit, sein eigenes Leben zu opfern. Als er den Zauber in Auftrag gegeben hatte, war er fest entschlossen, von der Tappan Zee Bridge zu springen.
Mariah hatte ihn davon abgebracht. Sie hatte behauptet, der Zauber könne nur wirken, wenn die Person, die um ihn gebeten hatte, noch am Leben war (Aubrey hatte nie erfahren, ob Mariah sich diese Regel selbst ausgedacht hatte oder nicht). Also wurde die Glasschale in den Turm der Strickerei verbannt, und Mr. Elazar kam einige Tage später wieder, um eine Decke aus schwarzer, mit doppeltem Faden gestrickter Wolle abzuholen. Er gab den Van-Ripper-Mädchen Süßigkeiten und brachte sie zum Lachen, indem er Münzen hinter ihren Ohren hervorzog. Er verließ die Strickerei mit dem sanften, bebenden Gesichtsausdruck eines Mannes, dem durch eine Woge der Hoffnung eine schwere
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