Die Würde der Toten (German Edition)
noch, obwohl sie schon eine Stunde mit der langweiligsten Tätigkeit der Welt zubrachte.
Der Gedanke an Adrian Wolf verstärkte ihre Nervosität und ließ sich nicht abschütteln. Schließlich holte sie seine Mutter aus der Kühlkammer und prüfte den Totenschein. Exitus in Folge einer verschleppten Lungenentzündung. Die Leiche zeigte keine Besonderheiten. Alles unauffällig und normal. Passend zur medizinischen Vorgeschichte mit leichter Demenz, Altersdiabetes und diversen kleineren Wehwehchen. Sie kannte das Personal im Krankenhaus gut, die gaben ihr schon mal eine mündliche Zusatzinformation, die man nicht auf den offiziellen Dokumenten finden konnte, bei einer Kaffeepause oder dem Zigarettchen zwischendurch auf dem Hof. Adrian hatte seine Mutter regelmäßig, aber immer nur sehr kurz besucht, weil die alte Dame sich sehr schnell aufregte. Doch wann genau er am Todestag zu ihr gekommen war, hatte Henry nicht in Erfahrung bringen können. Die Stationsschwester, die ihre Neugier befriedigen sollte, hatte zu diesem Zeitpunkt keinen Dienst gehabt.
Die vollen weißen Haare umrahmten ein hageres Gesicht, dem jegliche Weichheit fehlte. Obwohl der Tod die Muskulatur erschlaffen ließ, machte Elisabeth von Bragelsdorf wirklich keinen entspannten Eindruck. Vorsichtig strich Henry über die papierdünne Haut. Es gab keinen Grund mit der Versorgung noch zu warten. Dass sie keinen Auftrag für eine Einbalsamierung hatte, ignorierte sie. Auf das bisschen Gratis-Formalin kam es nicht mehr an. Moosbachers Schuldenberg wurde längst nicht mehr in Hundertern oder einfachen Tausendern berechnet. Elisabeth von Bragelsdorf sollte ihren Frieden finden, wenigstens im Tod. Henry glaubte nicht an Geister, trotzdem hatte sie manchmal das Gefühl, den Verstorbenen noch etwas geben zu können, sie zu besänftigen. Oder sie mit der Welt und den Lebenden zu versöhnen, die sie verlassen hatten. Vielleicht würde Adrian sie doch noch sehen wollen, und dann war es sicher gut, wenn sie … Erschrocken hielt Henry inne.
War es denkbar, dass Adrian Wolf den Medikamententropf manipuliert hatte? Konnte es sein, dass er den Tod seiner eigenen Mutter beschleunigt hatte und es sich deshalb verbot, auch nur die geringste Gefühlsregung zu zeigen?
* * *
Nach Dienstschluss beeilte sich Adrian, zu seinem Wagen zu kommen. Er verspürte keine Lust, noch mit jemandem zu reden. Jedenfalls nicht mit irgendjemandem. Den ganzen Tag hatte er sich in seinem Büro vergraben und ein umfangreiches Recherche-Projekt in Rekordzeit fertiggestellt, und zwar gut, das wusste er. Aber er konnte sich an kein einziges Detail mehr erinnern. Sein Hirn erschien ihm wie ein großes bodenloses Loch. Das Gefühl der Befreiung durch Elisabeths Tod war irgendwo darin verschwunden, und er verstand nicht wieso. Statt nach Hause zu fahren, schlug er den Weg nach Höchst ein.
Als er den Versorgungsraum betrat, registrierte er erleichtert, dass diesmal keine Leiche herumlag. Henry hob fragend eine Augen braue, sagte aber nichts. Er stand sinnlos mitten im Raum, bis sie ihn auf den Stuhl drückte. Seine Anwesenheit und sein Schweigen akzeptierte sie kommentarlos, arbeitete einfach weiter, diskutierte am Telefon mit einer Gärtnerei über Blumenarrangements, machte Ordnung, füllte Bestellformulare aus. Gelegentlich erzählte sie etwas oder warf Bemerkungen in den Raum, auf die sie keine Antwort erwartete.
An der Magnetleiste hingen Elisabeths Fotografien. Adrian versuchte zu schlucken, doch seine Zunge pappte wie ein Fremdkörper in seinem Mund, die trockene Kehle schmerzte. Henry nahm die Bilder ab, setzte sich neben seinem Stuhl auf den Tisch und musterte ihn. Als er den Blick erwiderte, nickte sie langsam, als sei ihr gerade etwas klargeworden.
»Es ist gut, dass du den Termin auf nächste Woche verschoben hast. So haben alle die Chance zu kommen, wenn sie es wissen – und das sollten sie.«
Er verstand die Anspielung auf seinen Vater, reagierte aber nicht und sie sparte sich eine Wiederholung. Stattdessen nahm sie die Checkliste aus dem Ordner und kurvte mit dem Kugelschreiber darüber.
»Was wir noch besprechen müssen, ist der Blumenschmuck. Ist weiß als Hauptfarbe in Ordnung? Weiß steht für die Ewigkeit. Wenn ich mir die Bilder ansehe, denke ich …«
»Keine Rosen!«
Henry zuckte erschreckt zusammen. Sein Einwand glich einem Aufschrei.
Er zwang sich zur Beherrschung, hob entschuldigend die Hand. »Weiß«, bestätigte er schnell. »Aber keine Rosen. Ich will
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