Die Würde der Toten (German Edition)
nichts mit einem Duft, auf keinen Fall!«
Adrian zerrte am Ausschnitt seines T-Shirts. Ihm blieb die Luft weg. Keine Sekunde länger konnte er das ertragen.
»Ich muss raus«, murmelte er und stürmte davon.
Verblüfft schaute Henry ihm hinterher. Was war denn in den gefahren? Der Mann stand unter Hochdruck wie eine Wasserflasche im Gefrierfach. Wieso war er überhaupt da gewesen? Plagte ihn das schlechte Gewissen? Offensichtlich schleppte Adrian Wolf ein grundlegendes Problem mit sich herum. Aber es gab keinen echten Hinweis darauf, dass es der Mord an seiner Mutter sein könnte, der ihn belastete. In seinen Augen konnte sie nicht lesen, was er wirklich dachte oder fühlte. Und auch Elisabeth von Bragelsdorf hatte ihr bei der Versorgung jede Auskunft verweigert, was nur selten passierte. Vielleicht hätte sie doch darauf warten sollen, dass Adrian ihr Musik mitbrachte. Mit den Lieblingsliedern der Verstorbenen im Ohr konnte sie diese besser fühlen; es half bei der Kontaktaufnahme und machte es leichter, einen Zugang zu finden. Sie zuckte die Schultern. Zu spät.
Und spät genug, diesen Arbeitstag zu beenden. Es konnte ihr egal sein, wieso Adrian Wolf ein so wortkarger Mensch geworden war. Sie redete ja auch nicht mit allen gerne. Schon gar nicht mit Lebenden. Und ob sie wollte oder nicht, mit dem schweigsamen Wolf würde sie sich wohl noch einige Male befassen müssen. Er brauchte Zeit. Das war das Einzige, was sie in seinen Augen klar erkannt hatte. Und die musste sie ihm geben.
Henry schnappte sich ihre Tasche und machte sich auf den Nachhauseweg. Das gehetzte Gefühl vom Morgen war verschwunden, und sie verschwendete keinen Gedanken daran, woher es gekommen war. Stattdessen freute sie sich auf die liebevolle Begrüßung, die sie erwartete. Nichts war schlimmer, als am Abend völlig allein zu sein. Zum Glück hatte sich das für sie vor vier Jahren geändert, was sie dem spektakulären Balkon vor ihrer Küche verdankte. Sie zumindest fand ihn spektakulär, und genau darum hatte sie die Wohnung damals unbedingt haben wollen. Seine Grundfläche maß genau siebenundachtzig Zentimeter in der Breite und einen Meter zweiundfünfzig in der Länge. Das Ganze in süd-westlicher Ausrichtung mit Blick in diverse Hinterhöfe und auf den Spielplatz einer Schule. Mit Abendsonne und Platz für einen kleinen Liegestuhl, wenn man die Füße auf da s Geländer legte, mit zwei Blumenkästen direkt neben der Regenrinne, die Mephisto als Kletterhilfe diente. Wobei sie vor zwölf Jahren an Mephisto noch nicht gedacht hatte.
Der kleine schwarze Kater hatte an einem lauen Sommerabend auf dem Balkon gesessen. So war er eingezogen und hatte ihr innerhalb weniger Tage klargemacht, dass sein Entschluss, bei ihr zu leben, unwiderruflich war. Sein Betragen war vorbildlich – wenn sie von dem kleinen Ausraster am Morgen mal absah – ebenso seine Manieren, was Fressen und Hygiene betraf.
Ehe sie nach oben in ihre Wohnung ging, kaufte sie ein Fladenbrot, Ayran, Nudeln und Oliven und trank im Stehen mit Ömer Gökcek in dessen Süpermarket im Erdgeschoss einen starken türkischen Tee, den sie mit einem Berg Kandiszucker süßte.
Mephisto wartete geduldig, bis Henry ihre Einkäufe beiseite gestellt hatte und ihm eine Portion Futter in seinen Napf füllte. Sie hatte keine Lust, sich etwas zu kochen, kippte den türkischen Joghurt in ein Glas, riss ein Stück Fladenbrot ab und hockte sich damit auf den Boden. Mephisto hob den Kopf und maunzte.
»Menschen sind komische Wesen«, erklärte Henry ihm. »Du hast eine feine Nase, mein Freund, und es gibt Gerüche, die kannst du partout nicht ausstehen.« Aufmerksam schaute der Kater sie an. »Und Tote haben – wie soll ich sagen – ein besonderes Aroma, das nicht jeder erträgt, auch wenn es noch kaum wahrnehmbar ist.«
Die kleine rosa Zunge schleckte genüsslich über eine Pfote.
»Aber kannst du dir vorstellen, dass jemand davonrennt, nur weil er an den Duft von Blumen denkt?«
* * *
Jürgen Moosbachers Zähne klapperten unkontrolliert. Durch die mit Brettern vernagelten Fensteröffnungen zog es erbärmlich. Das Versteck war sicher. Er sagte es sich immer wieder, murmelte es halblaut vor sich hin wie eine Beschwörungsformel. Dass er László davon erzählt hatte, machte nicht das Geringste aus. Auf László konnte er sich verlassen. Aber den Zugang hatte er ihm trotzdem nicht verraten, den kannte nur er selbst. Am »Fennischfuchser« vorbei, über drei Hinterhöfe und wieder ein
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