Die Würde der Toten (German Edition)
ein religiöser Mensch?«
Während Adrian noch überlegte, verband Henry mit zwei Stichen die Haut unter der Zunge mit der Nasenscheidewand, damit der Mund nicht wieder aufklappen konnte. Schon wieder gab es mehr zu sehen, als er wollte, und unwillkürlich befühlte er mit der Zunge seinen Gaumen.
»Spielt keine Rolle, woran man glaubt«, erwiderte er dann. »Ändert nichts an den Tatsachen.«
»Und was sind die Tatsachen?«
»Weg ist weg.«
»Das heißt, du glaubst nicht an ein Leben nach dem Tod?«
Er verzog die Lippen zu einem spöttischen Grinsen, das ausgeprägte Längsfalten auf seinen Wangen entstehen ließ und rechts ein einzelnes kleines Grübchen. »Glauben heißt nicht wissen. Ich glaube nichts und ich weiß nichts. Nur, dass jemand, der stirbt, in diesem Leben nicht mehr auftaucht. Also: Weg ist weg. Ob hinterher noch etwas kommt, bleibt abzuwarten.«
»Ein klassischer Agnostiker also. So, wie du das sagst, klingt das sehr pragmatisch. Fast schon gefühllos.«
»Mag sein. Aber alte Menschen sterben nun mal. Das ist normal.«
Henry fasste sich an die Stirn. »Was ist das denn für ein blöder Spruch? Es sterben auch junge Menschen. Kinder!«
Energisch zupfte Adrian einen losen Faden aus dem Saum seiner Jacke, was offenbar seiner vollen Aufmerksamkeit bedurfte. Henry wartete, aber er reagierte nicht, spielte weiter mit dem Faden, wickelte ihn um den Zeigefinger, bis dieser blau anlief. Ein Muskel auf seiner linken Wange zuckte heftig.
Er hoffte, dass sie das Schweigen bald nicht mehr ertragen konnte und weiterredete. Und er wünschte, sie fände zur Abwechslung ein anderes Thema als Leichen. Aber die Aussicht darauf war denkbar gering.
»Du hattest Glück, dass du mich überhaupt noch hier angetroffen hast. Normalerweise wäre ich längst weg.«
Nachdem Henry den Toten angekleidet hatte, stäubte sie ihm losen Puder über Wangen und Stirn, die dadurch eine frischere Farbe bekamen, kämmte die Haare und befestigte eine Strähne mit Gel. Kritisch begutachtete sie ihren Kunden. Sie konnten beide zufrieden sein.
»Aber die Aushilfe hat uns hängenlassen, ist einfach nicht erschienen. Den Herrn hier konnten wir erst auf dem Rückweg vom Friedhof bei seiner Familie abholen.«
»Familie!« Adrian schnaubte genervt. »Hast du die Kurve wieder gekriegt? Ich will nicht über meine Familie reden!«
Henry zog den Wagen mit dem Sarg näher zum Versorgungstisch. »Ich habe nicht von deiner Familie gesprochen, sondern von seiner.« Sie blieb gelassen. »Hilf mir mal, wenn du schon da bist.«
»Wobei?«
Sie rollte die Augen und deutete mit beiden Händen auf den Toten, dann auf den offenen Sarg.
»Das mache ich nicht.« Adrian steckte die Hände in die Hosentaschen und zog die Schultern nach oben. »Ich fasse den nicht an.«
»Tot sein ist nicht ansteckend. Das ist eine Sache von Sekunden. Hier, nimm.« Sie reichte ihm ein Paar Einweghandschuhe. »Zieh die an und hinterher kannst du dich von mir aus stundenlang desinfizieren, wenn dir das hilft.«
Widerstrebend erhob er sich.
»Wo ist das Problem? Du hast mir zugesehen, als ich ihn gewaschen habe.«
Er schluckte hart. Das stimmte so nicht. Ihn hatte er nicht angesehen, nicht ansehen wollen, nur sie. Wie sie mit Wasser und Seife und Hingabe zu Werke ging, faszinierte ihn. Erst heute war ihm aufgefallen, dass ihre Haare nicht kurz waren und auch nicht glatt. Sie trug sie im Nacken zu einer merkwürdigen Rolle nach innen gedreht, und er hatte sich dauernd gefragt, wie lang sie wohl sein mochten und was sie entgegen der Schwerkraft dort oben hielt.
Jetzt stand er vor dem Toten und bemühte sich, den Griff des Sarges zu fixieren. Aber sein Blick wanderte unkontrolliert ab, rutschte zur Seite und heftete sich an ein Bein im schwarzen Anzug. Sein Mund fühlte sich trocken an, und er hustete nervös. Henry zwang ihn, ganz dicht an den Leichnam heranzutreten, und schob seine Arme unter die Waden und das Becken des Toten, legte einen ihrer Arme daneben und den anderen unter die Schultern.
»Fertig? Dann hoch! Und ganz langsam absenken.«
Seine Hände fühlten den glatten, kühlen Stoff, der in zahllose Fältchen gelegt den Sarg auskleidete, fühlten die Hose, fühlten das Gewicht des leblosen Körpers. Adrian starrte auf den Bauch des Mannes. Schnell machte er zwei Schritte rückwärts, um dem Drang zu entgehen, ihm ins Gesicht zu blicken. Er hatte einen Toten berührt. Einen echten Toten. Das hatte er nie wieder tun wollen. Nie wieder.
»Du musst dir Zeit
Weitere Kostenlose Bücher