Die Würde der Toten (German Edition)
sie.
Keine Heldentaten, bis ich mich wieder bei Ihnen melde. Unser Freund Jürgen könnte das an Ihrer Stelle bereuen. Westermanns Worte rotierten in ihrem Kopf.
Eberhard und Anneliese Moosbacher brachen am frühen Nachmittag auf, um das Wochenende bei Annelieses Schwester zu verbringen. Anschließend war Henry mit sich allein.
Ihre Nerven lagen blank, sie konnte die Stille kaum ertragen. Wie eine Marionette räumte sie auf, sprühte zum mindestens fünften Mal den Versorgungstisch mit Desinfektionsmittel ein. Da konnte längst kein Blut mehr sein. Aber sie sah es immer noch an den Kanten kleben, spürte es unter den Fingern, konnte es riechen. Als Westermann endlich anrief, versagten ihre Knie.
»Wie ich gehört habe, ist unsere Lieferung heute Morgen ordnungsgemäß endbehandelt worden. Das freut mich außerordentlich. Ich möchte, dass Sie morgen für mich erreichbar sind. Las sen Sie Ihr Handy eingeschaltet. Jürgen war so freundlich mir Ihre Nummer zu geben. Für heute haben Sie Feierabend, Frau Körner.«
Ihre Panik wich einer kurzen Euphorie. Sie war frei. Wenn auch nur für ein paar Stunden.
Während sie den Tisch ein letztes Mal polierte, schaute sie zur Uhr. Das war Adrians Zeit. Entgegen jeder Vernunft war sie plötzlich völlig ruhig.
Sie musste eine Entscheidung treffen. Jetzt. Sie durfte sich nicht weiter erpressen lassen. Was sie brauchte, war ein Plan, eine Eingebung, eine Absicherung – bevor Westermann sich wieder meldete. Etwas, das ihr half, das perverse Spiel zu beenden. Dieses Wochenende könnte jemandem das Genick brechen. Wenn es nach ihrem Willen ging, war das Alfred Westermann. Vielleicht traf es auch sie selbst, wenn sie einen Fehler machte. Das Risiko ließ sich nicht vermeiden. Aber auf gar keinen Fall durfte es Adrian Wolf erwischen.
* * *
Zum ersten Mal stand Adrian bei Pietät Moosbacher & Sohn vor verschlossenen Türen. Vor sich hin fluchend stieg er wieder in den Wagen. Er hätte Henry gebraucht. Um sie zur Rede zu stellen; und um herauszufinden, weshalb sie log. Er musste zu ihr nach Hause fahren, endlich die Zweifel loswerden, in ihre Augen sehen.
Adrian kratzte sich den Nacken und verwarf den Gedanken. Ihre Augen. Nein. Gerade das war sicher keine gute Idee. Wenn er der Wahrheit näher kommen wollte, versuchte er es besser bei Viktor. Ein klarer Blick von außen wirkte manchmal Wunder.
Die Fahrt von Höchst nach Praunheim dauerte nur wenige Minuten. Adrian bog in eine Straße mit einheitlichen Reihenhäusern ab. Nur die Zäune unterschieden sich, und der Putz an den Fassaden, der bei manchen bröckelte und bei anderen nicht. Adrian stieg aus und blieb vor dem Tor von Haus Nummer acht stehen. Kein englischer Rasen, keine Gartenzwerge, stellte er erleichtert fest. Gut gepflegt, aber nicht pedantisch. Zwischen den Platten, die zum Eingang führten, zeugte Moos von feuchten Herbsttagen. Bevor er klingeln konnte, kam hinter einem Busch eine Frau zum Vorschein. Sie war lässig gekleidet und hatte offensichtlich im Garten gearbeitet. Ihre Füße steckten in Gummistiefeln, die Hände waren von einer erdigen Kruste bedeckt.
»Hallo! Sie müssen Adrian Wolf sein«, sagte sie mit einem Lächeln und ließ ihn ein. »Herzlich willkommen. Ich bin Sonja Bertram.«
Wortlos folgte er ihr zur Haustür, aus der ihm ein kniehohes Fellknäuel entgegengeschossen kam.
»Darf ich vorstellen: Götz«, erklärte Sonja Bertram. »Ein blöder Name für einen Hund, ich weiß, aber wegen seiner renitenten Haltung zu meinen Erziehungsversuchen der einzig richtige!«
Adrian brachte keinen Ton über die Lippen. Aber die Frau mit den schulterlangen grauen Haaren erwartete offenbar nichts anderes und bat ihn, im Wohnzimmer auf Viktor zu warten, der gleich zurück sei.
Er setzte sich in einen weichen Sessel und kraulte dem Hund die Ohren, während Sonja Bertram sich die Hände wusch, Kaffee aufsetzte, einen Wäschekorb vorbeischleppte und immer wieder ein paar Worte an ihn richtete.
An der Wand, über einem gusseisernen Ofen, hing ein Kunstdruck in leuchtenden Farben. Ein bekanntes Bild, aber weder der Titel noch der Maler wollten ihm einfallen. Vermutlich von einem dieser Franzosen. Die konnte er nie auseinanderhalten. Der ganze Raum verströmte Leichtigkeit und Lebensfreude. Harmonie.
Es war Adrian nie in den Sinn gekommen, dass Viktor verheiratet sein könnte. Aber er war es nach Aussage seiner gut gelaunten Frau seit nunmehr fast zwanzig Jahren. Das brachte ihn völlig aus dem Konzept.
* *
Weitere Kostenlose Bücher