Die Würde der Toten (German Edition)
heraufbeschworen. Es konnte nicht nur die verspätet geborgene Wasserleiche gewesen sein. Dafür konnte er sie nicht verantwortlich machen. Welcher Fehler war ihr unterlaufen, für den Jürgen den Kopf hatte hinhalten müssen? Henry wollte so gerne wenigstens jetzt etwas für ihn tun. Doch sie konnte sich den ganzen Tag lang nicht dazu entschließen, ihm nochmals gegenüberzutreten.
* * *
Adrian beobachtete sie. Alles war wie immer. Fast. Ihre Bewegungen wirkten gleichmäßig, routiniert. Doch Henry redete nicht, und die Linie ihres Nackens erschien ihm angespannt. Oder war es sein eigener Körper, der sich bei ihrem Anblick verkrampfte? War nur er anders als sonst?
Wenn sie die Antworten auf seine Fragen kannte, war sie offenbar nicht bereit, ihm diese zu geben. Dass er die Fragen nicht stellte, machte bei seiner Überlegung keinen Unterschied. Ihr Schweigen konnte nur bedeuten, dass sie etwas vor ihm ver heimlichte. Ihm nicht vertraute. Er schob den Totenschein und einige Notizzettel beiseite, und lehnte sich gegen den Arbeitstisch.
Auch gestern hatte er keinen von Katjas Anrufen entgegengenommen und versucht, ihre Existenz einfach auszublenden. Es war ihm erschreckend gut gelungen. Nicht an Henry denken zu wollen, war dagegen aussichtslos. Selbst wenn er es schaffte, das Rätsel um Westermann und Szebeny zu verdrängen – Henry blieb in seinen Gedanken präsent. Immer.
Auf dem Drehstuhl lag zusammengeknüllt ihre Jacke. Seine Hand berührte unbewusst den weichen Stoff, streichelte darüber.
»Ich will mit dir schlafen.« Er sagte es leise, ohne besondere Betonung.
»Nicht jetzt, nicht hier.« Henry hob nicht den Kopf.
»Du hast es gewusst?«
»Dass ich den Umgang mit Toten bevorzuge heißt nicht, dass ich die Signale der Lebenden nicht verstehe.« Sorgfältig legte sie die Pinzette beiseite, schaute ihn aber nicht an. »Du solltest es nicht tun.«
»Warum?«
»Du bist nicht wie ich, schon vergessen? Eine treue Seele. Du bist für nur eine Frau gemacht. Nicht für Lügen und Ausflüchte.« Sie nahm ihre Arbeit wieder auf. »Es ist besser, wenn du jetzt gehst.«
Adrian trat direkt hinter sie, ohne sie zu berühren. Zwischen ihren Haaren hing der Duft von Sandelholz und Amber. Er sog das warme, süße Aroma tief ein.
»Nicht jetzt, nicht hier«, murmelte er. Seine Nase streifte ihren Hinterkopf.
Henry hielt den Atem an, bis er leise die Tür hinter sich geschlossen hatte.
Verwirrt blieb Adrian auf dem Flur stehen. Er war nicht gekommen, um ihr das zu sagen, hatte es vorher selbst nicht einmal gewusst. Trotzdem entsprach es der Wahrheit. Er wollte sie. Und er verlor seine Objektivität, weil es so war. Am liebsten hätte er den Kopf gegen die Wand geschlagen, um Henry daraus zu entfernen. Hier ging es um etwas ganz anderes. Nicht um das, was er wollte.
Er lauschte in die Stille. Im Erdgeschoss rührte sich nichts. Anstatt zu gehen, schlich er die Treppe hinauf und tastete sich an der Wand entlang bis zu Eberhard Moosbachers Büro.
Viktors Worte drängten sich in sein Bewusstsein. Ermittelte hier der Polizist Adrian Wolf, entgegen jeder Vorschrift, weil er glaubte , ein Verbrechen entdeckt zu haben? Oder der Freund Adrian Wolf, weil er sich sorgte? Oder der Mann Adrian Wolf, weil er schon wieder gekränkt war?
Noch war es draußen nicht ganz dunkel, so dass er kein weiteres Licht benötigte. An den Wänden reihten sich Regale aneinander, gefüllt mit Formularen, Korrespondenz und Fachliteratur. Mit dem Finger folgte er dem Alphabet über die Ordnerrücken bis zu den Überführungslisten.
Ein ukrainisches Unternehmen hatte Kolja Bilanow abgeholt und in die alte Heimat verfrachtet. Hier stand ganz offiziell Wes termanns Name, als Beauftragter der Familie. Das war nicht neu. László Szebenys Transport ins angrenzende Bayern dagegen war von Moosbacher selbst veranlasst worden. Adrian las den Eintrag dreimal. Henry hatte alles vorbereitet und Moosbacher die Papiere unterzeichnet. Kein Hinweis darauf, dass Westermann irgendetwas damit zu tun hatte.
»Verdammt!« Verärgert schob er den Ordner zurück. Kopien der Totenscheine gab es nirgendwo, und die Originale wurden an das zuständige Standesamt weitergeleitet. Eine Auskunft vom Amt zu bekommen, war aber ohne offizielle Ermittlung aussichtslos. Dabei hätte es ihn brennend interessiert, ob in beiden Fällen derselbe Arzt den natürlichen Tod bescheinigt hatte. Überprüfte überhaupt jemand die Existenz des unterzeichnenden Arztes oder die
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