Die Würde der Toten (German Edition)
die Küche. Auf dem Tisch lagen die Reste einer Tafel Schokolade und ein spitzes Messer. Der Fußboden war schwarz verschmiert und es roch durchdringend nach angesengtem Kunststoff.
Adrian kam nicht dazu, darüber nachzudenken, was das bedeu tete. Er musste mit ihr reden. Sofort. Sein Magen krampfte sich nervös zusammen und unter seinen Achseln bildeten sich Schweißflecken. Reden. Nur reden. Darum war er hier.
Henry lehnte ihre Stirn zwischen seine Schulterblätter, schlang die Arme um seinen Bauch, fühlte den Rhythmus seines Atems, der sie nun beide bewegte. Minutenlang.
Nichts hatte sie gewusst, gar nichts. Nicht einmal geahnt.
Langsam tasteten sich ihre Hände voran, öffneten einen Hemdknopf nach dem anderen, zogen Stoff beiseite, bis sie seinen Körper unter den Fingerspitzen fühlte. Nur einen Augenblick wollte sie haben, was sie nicht haben konnte. Nur einen Augenblick alles zulassen und alles vergessen.
Während sie sein Hemd über die Schultern abstreifte, drehte er sich um, schob seine Hände unter ihren Pullover und bewegte sie langsam zur Tür. Hungrig trafen sich ihre Münder, saugend und beißend. Halb ausgezogen versanken sie in Henrys Bett, atemlos und staunend, wie richtig es sich anfühlte, wie selbstverständlich. Adrian suchte ihre Haut, ihren Duft, mit allen Sinnen, so ungeduldig, als fürchtete er, sie könne sich jeden Moment in Luft auflösen. Aber sie löste sich nicht auf, blieb bei ihm, ganz Körper und Sinnlichkeit, Fleisch und Lust und Ekstase.
Als Henry die Welle spürte, die Adrian überrollte, umfasste sie seine Schultern mit den Händen, um ihn zu stützen. Sie konnte den Blick nicht von seinen Augen wenden, die sich verschleierten, aber weit offen blieben, bis es vorbei war. Adrian ließ seinen Oberkörper auf den ihren sinken und schmiegte sein Gesicht in ihre Halsbeuge.
»Der kleine Tod«, flüsterte sie sanft und streichelte seinen Nacken. »Jeder gute Orgasmus ist wie ein kleines bisschen Sterben. Hab ich mal irgendwo gelesen. Aber wenn es so wäre, wäre es gar nicht schlimm, oder?«
Er gab einen Laut von sich, den sie als Zustimmung deutete. Sie wollte es gern glauben, dass es so sein konnte. Doch nicht einmal dieser Gedanke konnte die schrecklichen Bilder der letzten Tage verscheuchen. Die eben noch empfundene Euphorie verwandelte sich in schmerzliche Ernüchterung, die sie nicht zulassen wollte.
»Der schönste Moment beim Sex beginnt doch damit, dass dein Hirn nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt wird, weil sich alles Blut im Unterleib sammelt. Du hörst auf zu denken, bist reines Gefühl – und dann Pow – explodierst du innerlich. Bist reine Energie, bist Sternenstaub! Ein grandioses Ende der Existenz, findest du nicht?«
Adrian fühlte noch die Nachbeben der Explosion und murmelte unverständlich in ihrem Haar.
»Was sagst du?«
»Du spinnst.« Ein schläfriges Lachen schwang in seinen Worten. »Sogar jetzt denkst du an den Tod. Dabei geht es doch gar nicht lebendiger!«
»Eben. Leben und Tod sind eins. Und wenn du vorhin genau geguckt hast, dann weißt du es. Im Moment des Höhepunkts war der Tod auch in meinen Augen.« Mit beiden Händen zog sie seinen Kopf nach oben und suchte seinen Blick. »Habe ich Recht? Hast du ihn gesehen?«
Adrian starrte sie an ohne zu antworten. Er wollte nicht daran denken. An ihre Augen, ja. An ihre Leidenschaft, ja. Aber nicht an den Tod. Den hatte er oft gesehen. Einmal zu oft. In diesem kleinen Gesicht, das noch so viele Jahre hätte lachen sollen. Aber er hatte dieses Leben beendet. Es änderte nichts, dass er nicht schuld war.
»Adrian?« Sie biss sich auf die Lippen. Dieser versteinerte Blick machte ihr Angst. Auch er war gefangen in einem Schmerz, den er nicht mit ihr teilen konnte.
»Adrian, es tut mir leid.« Verstört zog sie sein Gesicht zu sich. »Ich bin ein Idiot, ich kann einfach nicht aufhören zu reden! Kannst du nicht machen, dass ich endlich still bin?«
Er atmete langsam aus und nickte. »Doch, kann ich.« Er verschloss ihren Mund mit seinem, fühlte ihre Wärme, beruhigend, fremd und vertraut, und wie sie beide sich wieder entspannten. Diese Nacht war noch lang. Lang genug, das Leben weiter zu feiern und der Angst vor dem Morgen keinen Raum zu geben.
Doch sie wussten beide, dass eine Nacht nicht genug war.
Tag 16 – Dienstag
Als Adrian um halb sechs erwachte, war er allein. Er zog sich an und vermied dabei den Blick zurück zu Henrys zerwühltem Bett. Er hatte einen Fehler gemacht.
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