Die Wundärztin
besser, als bei der Mutter und der Cousine drüben im Kaufmannshaus zu sitzen und dem kleinen Fritz beim Wachsen zuzusehen. Weil sie es dem sterbenden Vater versprochen hatte, suchte sie die Mutter zwar brav jeden Abend auf, schlich sich bei Einbruch der Dunkelheit aber gleich wieder davon. Die Nächte verbrachte sie nach wie vor auf dem Heuboden in der Gerberau. Irgendwann, so träumte sie, würde Eric wieder auftauchen.
Bald fühlte sie sich immer elender. Ein ungewöhnlich eisiger Augustwind hatte den Franzosen und Weimarischen zwar die dunklen Regenwolken nach Westen hinterhergefegt. Danach hatte die Sonne wieder die Herrschaft übernommen und Land und Leute rund um Freiburg kräftig aufgewärmt. Die dunklen Schatten auf Magdalenas Gemüt aber wollten nicht weichen. Die Ungewissheit über Erics Verbleib lastete schwerer auf ihr als die Trauer um den Vater. Denn die Erinnerung an die letzten Augenblicke mit ihm wurde von dem unerfüllbaren Wunsch getrübt, sie solle endgültig von Eric lassen. Sie aber sah keinen Grund, die Feindschaft ihrer beider Väter fortzusetzen. Eric wusste sicher ebenso wenig davon, sonst hätte er es längst angesprochen. Voller Sehnsucht dachte sie an die Nächte mit ihm. Das Betrachten des honiggelben Bernsteins mit dem rätselhaften Insekt, den sie sich während der Stunden auf dem Heuboden vor Augen hielt, schenkte ihr allerdings keinen rechten Trost mehr. Es schien, als weiche mit jedem Tag die einstige Stärke aus dem Stein wie aus ihrem Körper, der immer noch von ständiger Übelkeit gequält wurde.
Gleich bei ihrer Rückkehr vom Slierberg hatte Roswitha die wahre Ursache erkannt und sie beglückwünscht. Noch aber war Magdalena weit entfernt, sich über die Schwangerschaft zu freuen. Abgesehen von der Sorge um Eric machte ihr auch der Zustand selbst erheblich zu schaffen. Kaum zu glauben, dass Frauen das seit Menschengedenken geduldig ertrugen. Morgens schon fehlte ihr die Kraft aufzustehen. Hatte sie es dann endlich geschafft, sich zu erheben, überkam sie heftiger Würgereiz, kaum dass sie in der Aufrechten war. Tief in ihrem Innern keimte die Gewissheit, dass dieser Zustand nur vorübergehender Natur war, dass bald schon bessere Zeiten folgten. Sie fühlte sich jedoch zu ausgelaugt, um tatsächlich auf ein gutes Ende zu hoffen. Wie sollte sie auch, seit mit Eric der wichtigste Mensch in ihrem Leben fehlte? Dass ihr Vater gestorben war, war schlimm. Allerdings hatte er als Soldat tagtäglich mit dem Tod rechnen müssen. Seit Jahren hatte er sie deshalb darauf vorbereitet, ohne ihn zurechtzukommen. Dass aber möglicherweise auch Eric und damit ihre Zukunft verloren sein konnte, empfand sie als unerträglich, selbst wenn sie wusste, dass fortan ein Teil von Erics Seele unter ihrem Herzen zu einem neuen, eigenständigen Wesen heranwuchs.
»Es gibt etwas zu feiern. Die Kapelle auf dem Slierberg ist fertig«, berichtete ihr eines Morgens ein Soldat, der einen Schlauch Branntwein in der Apotheke abholte. »Morgen wird sie geweiht.«
Seine Augen blitzten vor Freude, und auch Magdalena konnte zum ersten Mal wieder lächeln. Endlich war die Ungewissheit der letzten Tage verflogen. Sie musste sich beherrschen, nicht aufzujuchzen: Meister Rott und seine Gesellen würden nach getaner Arbeit in die Stadt zurückkehren! Womöglich konnte sie in dieser Nacht wieder in Erics Arme sinken. Ihre Finger zitterten, als sie dem Korporal den Branntwein übergab. Kaum hatte sie die Geduld abzuwarten, bis er ihr das Geld dafür in die Hand gezählt hatte. Hastig übertrug sie Rupprecht die Aufsicht über die Offizin und stürmte davon.
In dem kleinen Gehöft in der Gerberau, in dem außer den Zimmerleuten noch andere Handwerker hausten, war es noch immer still. Die letzten Hühner waren lange geschlachtet und in einigen der unzähligen hungrigen Bäuche verschwunden. Lediglich ein paar dürre Tauben gurrten unter dem löchrigen Dach, und eine schwarze Katze streunte durch die leerstehenden Gebäude. Sie kreuzte Magdalenas Weg von links nach rechts. Hastig schlug sie ein Kreuz. Für alle Fälle warf sie außerdem drei Steine über die Katzenspur und schloss die Augen, um fest an Eric zu denken.
»Suchst du immer noch nach deinem Zimmermann?« Plötzlich stand der Zahnlose dicht hinter ihr. »Es heißt, die Kapelle oben auf dem Slierberg ist fertig. Hier unten aber sind die Zimmerleute nicht angekommen. Das Letzte, was man von ihnen weiß, ist, dass ein halbes Dutzend bewaffneter Franzosen sie
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