Die wunderbare Welt der Rosie Duncan
man wissen, dass ihnen von klein auf eingeimpft wurde, dass es sich gehöre, dankbar zu sein. Gerade angesichts des materialistischen Lebensstils, der hierzulande mittlerweile vorherrscht und jeden Tag auf sie einprasselt, scheint das Fest für viele eine tiefere Bedeutung bekommen zu haben. Es ist eine Art Kulturgut, eine Tradition, die alle Amerikaner eint und Ausdruck dieser seltsamen Mischung aus moderner Konsumgesellschaft und einem starken, sehr traditionellen Moralempfinden ist. Beides ist so charakteristisch für die amerikanische Befindlichkeit, für dieses Land, wo jeder seines Glückes Schmied ist und selbst sehen muss, wie er zurechtkommt, Unhöflichkeit und Rücksichtslosigkeit aber dennoch missbilligt werden. Thanksgiving soll einen an seine Wurzeln erinnern und an alles, wofür man dankbar sein sollte. Und mittlerweile wollte auch ich Thanksgiving um nichts in der Welt mehr missen.
»Celia hat mich zu ihrem Thanksgiving-Dinner eingeladen«, verkündete Nate strahlend, als wir mal wieder beim Kaffee saßen und zuschauten, wie tapfere New Yorker draußen dem ungemütlichen Wetter trotzten. »Ich habe gehört, dass es jedes Jahr wieder ein unvergessliches Ereignis sein soll.«
Ich stützte das Kinn auf meinen Kaffeebecher, genoss den dunkel aromatischen Duft und schaute in den grauen Herbsthimmel hinauf. »Stimmt, das solltest du dir nicht
entgehen lassen. Celias Partys sind ja sowieso berühmt, aber an Thanksgiving übertrifft sie sich noch selbst.«
»Sie meinte, ich solle auf jeden Fall großen Hunger mitbringen. «
Ich trank einen Schluck Kaffee und nickte. »Nachdem Celia sämtliche Zutaten für ihr Thanksgiving-Dinner geordert hat, herrscht in New York immer noch einige Wochen lang Lebensmittelknappheit.« Ich überlegte, ob ich die Frage stellen sollte oder lieber nicht. »Kommst du?«
Nates Blick schweifte hinaus auf die Straße. »Kann ich jetzt noch nicht sagen. Nach dem Wochenende weiß ich mehr.«
Achtung, heikles Thema. »Ah … Caitlin möchte vermutlich, dass du an Thanksgiving bei ihrer Familie bist?«
Seine Miene war reglos, seine Stimme ruhig und sachlich. »Nein.«
»Mmmh … verstehe.« Darauf hätte betretenes Schweigen folgen können, doch glücklicherweise wurden wir abgelenkt, weil draußen zwei Taxis mit quietschenden Reifen bremsten und die Fahrer sich mit Schimpfwörtern und Verwünschungen bombardierten. Ich lachte. »Oh, ich liebe New York – so eine freundliche Stadt.«
»Du könntest auch an einer Prügelei noch etwas Schönes finden, oder?«
Ich legte meine Hände in Buddha-Manier auf meine Knie und dozierte: »Unwissender Nate soll von Meister-Optimistin lernen. Rosie Duncan sagt: Mann ohne Optimismus ist in New York wie Old Faithfuls Kaffee ohne gute Gesellschaft.«
Spätestens jetzt hätte Nate zu der Erkenntnis kommen können, dass ich nicht alle Tassen im Schrank hatte. Doch er zeigte sich unbeeindruckt und erwiderte: »Und was, oh große Meisterin, will mir das sagen?«
»Keine Ahnung«, meinte ich achselzuckend. »Klang aber gut, oder?«
Er lachte. »Ich bin also gute Gesellschaft?«
»Die bist du«, erwiderte ich lächelnd und fügte mit einem kurzen Blick auf meine Uhr hinzu: »Trotzdem müsste ich mich mal wieder an die Arbeit machen.«
Wie auf ein Stichwort ging in diesem Augenblick die Tür auf, und ein alter Mann kam in den Laden.
»Hallo, Rosie! Der Wind hat mich hierhergeweht, und ich habe mich die ganze Zeit gefragt, warum nur? Und eben ist es mir wieder eingefallen – heute ist ja der zweite Donnerstag des Monats!«
Ich schüttelte Eli Lukichs altersfaltige Hand. »Es ist auch alles bereit«, meinte ich und ging hinüber zum Ladentisch.
Eli folgte mir. »Ach, Sie sind so ein gutes Mädchen, Rosie. Heute Morgen erst habe ich zu meiner Aljona gesagt, was für ein gutes Mädchen Sie doch sind. Sie erinnern mich an meine Mutter – Valentina Nikolajowa, Gott hab sie selig – , damals, als wir noch drüben in der alten Heimat waren. Nie hat sie einen Tag vergessen, an dem es etwas zu feiern gab. Und dabei hat sie nie einen Kalender besessen, stellen Sie sich das mal vor! Sie hatte das alles im Kopf, hat nie was vergessen. An allen Geburtstagen, an den Feiertagen, den Festtagen der Heiligen – immer hatten wir die schönsten Blumen, damals in unserem Haus in Losk.«
Ich reichte Eli einen kleinen Strauß gelber Rosen. Er roch daran und schloss die Augen. »Wunderbar, Rosie, ganz wunderbar. Genau wie sie meiner Mutter gefallen hätten …
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