Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
wir in einer solchen Situation keine Geigerzähler haben, ist eigentlich ein Segen. Dadurch bleibt es uns erspart zu erfahren, wie viel Strahlung wir in den letzten Tagen ausgesetzt gewesen sind. Es spielt keine Rolle mehr. Inzwischen dürfte klar sein, dass niemand von uns überleben wird. Ob wir die Mission durchführen können, mit der uns Kardinal Albani beauftragt hat, muss zumindest bezweifelt werden. Aber jeder von uns hat eine eigene kleine Mission, die ihn beschäftigt, und nur bei mir stimmt sie mit der offiziellen überein. Für Diop besteht sie darin, Bune bis zu seinem Ende zu betreuen. Für Wenzel ist es die Reparatur des Hummers.
Und für Durand …
Stundenlang schärft er sein Messer und überprüft immer wieder unsere wenigen Vorräte. Irgendetwas in ihm ist zerbrochen. In der Hülle des Marc Durand scheint eine andere Person zu stecken. Ich habe mein Leben und meine Mission einem Mann anvertraut, den ich kenne, aber ich weiß nicht, wie viel Vertrauen die Person verdient, die seinen Platz eingenommen hat.
Doch es gibt keine Alternative für mich.
Als der vierte Tag in den Ruinen von Rimini zu Ende geht, teilt Feldwebel Wenzel dem Hauptmann und mir mit, dass der Hummer fertig ist und wir losfahren können.
Wir beladen ihn mit unseren Waffen und Vorräten.
Dann gehen wir zu Bune.
Seit zwei Tagen habe ich jenes Zimmer nicht betreten.
Der Geruch ist fürchterlich.
Brandiges Fleisch.
Außerdem Blut, Exkremente, Urin.
Marcel Diop reißt die Augen auf, als wir hereinkommen. Weiße Augen in einem ebenholzschwarzen Gesicht.
»Wir wollten dich nicht erschrecken.«
»Oh. Du bist es, Hauptmann. Und Pater Daniels … Sie werden nicht gebraucht, Pater. Karl geht es gut. Er erholt sich, sehen Sie?«
Ich sehe, dass er sich nicht erholt. Ganz im Gegenteil.
Bunes Gesicht ist kaum wiederzuerkennen. Die Lippen sind zurückgewichen und lassen das Zahnfleisch zum Vorschein kommen. Die Haut spannt sich halb durchsichtig über den Knochen, die Augen liegen tief in den Höhlen, blutunterlaufen und mit fiebrigem Glanz.
»Es war nicht leicht, es war nicht leicht …« Es klingt wie ein Singsang, und Diop schaukelt dabei vor und zurück. »Es war nicht leicht, nein, das war es nicht … ohne Antibiotika und ohne Desinfektionsmittel … Nicht einmal einen ordentlichen Verband hatten wir für ihn. Aber wir haben es trotzdem geschafft, nicht wahr, Karl? Wir haben es geschafft …«
Durand geht neben ihm in die Hocke. Ich kann mich nicht überwinden, das Zimmer zu betreten – der faulige Gestank ist einfach zu stark. In der Tür bleibe ich stehen und nehme die schreckliche Szene in mich auf.
»Marcel …«
Die Stimme des Hauptmanns ist sanft, fast zärtlich.
Wer könnte diesen Irrsinn besser verstehen als er?
Ein Krächzen kommt aus Bunes Kehle.
Ein Wort. Dann noch eins.
»Steh … auf …«
Und dann: »… Hauptmann Durand …«
»Ich bin gekommen, um zu sehen, ob du …«
»Worte … sprechen …«, ächzt Bune.
Dann schließt er die Augen, erschöpft von der Anstrengung.
Durand nickt, steht auf und breitet die Arme aus.
»Ich erkenne an, Mithras, dass Du der Erste und der Letzte bist, das A und das O. Du bist der wahre Schöpfer der Welt, der Herr des Existierenden. Sieh auf Deinen Diener herab, der aus dem langen Schlaf erwacht, in dem er viele Jahre verbrachte, und sich einer neuen Erfahrung öffnet, der des Lichts. Wir preisen Dich, Mithras, und wir opfern Dir, Herr der weiten Weiden, der Du unermüdlich wachst und Deine Gläubigen vor dem Tod bewahrst. Errette uns vor der Angst, befreie uns vom Bösen, Mithras, unser Herr, denn unser Glaube an Dich ist nie geringer geworden. Lass vom Himmel herabregnen Schrecken für jene, die nicht an Dich glauben, nimm ihren Armen Kraft, Allmächtiger. Entreiße ihren Füßen die Schnelligkeit, ihren Augen das Licht und die Töne ihren Ohren. Weder die spitze Lanze noch der fliegende Pfeil können jenen töten, den Mithras schützt. Und sind sie auch noch so gut gezielt, der Gläubige braucht Lanze und Pfeil nicht zu fürchten. Wir preisen Dich, Mithras, und wir opfern Dir, Herr der weiten Weiden, der Du unermüdlich wachst und über Völker und Nationen urteilst. Wenn der Herr eines Hauses zu den Ungläubigen zählt, wenn der Herr eines Viertels, einer Stadt oder einer ganzen Provinz Ihn beleidigt, so wird Mithras in Seinem Zorn das Haus zerstören, das Viertel, die Stadt und die ganze Provinz. Wo auch immer sich jener befinden mag, der Mithras lästert,
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