Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
geeigneteren Ausdruck dafür kenne. Vielleicht sollte ich von einer Anomalie sprechen. Und seitdem habe ich weitere solche Anomalien gesehen …
Ich näherte mich dem Kaiser Hadrian, doch er achtete nicht auf mich. Erst als mich nur noch ein Meter von ihm trennte, hob er den Kopf und sah in meine Richtung, ohne den Blick direkt auf mich zu richten. Dann schien er mich zu sehen, mit seinen kurzsichtigen Augen. Er war schon alt, obwohl ich nicht zu sagen wüsste, wie alt er war – damals kam das Alter früher als heute. Ich weiß noch, dass er mich ansah und den Mund öffnete, als wollte er mir etwas sagen. In dem Moment verschwand das Bild, und ich war wieder von nackten Mauern und Dunkelheit umgeben.
»Glaubt die Kirche an Geister, Pater Daniels … John?«
»Wir glauben an die Wiederauferstehung der Toten, aber nicht an Geister. Ich meine, nicht in dem Sinn …«
»Nicht in dem Sinne?«, wiederholt Durand. »Was willst du damit sagen?«
Ich räuspere mich.
»Auch die Bibel berichtet von übernatürlichen Erfahrungen. Von Visionen, Zauber, Geistern … Aber sie sind Teil einer noch älteren Vergangenheit. Wir Christen glauben nicht an Geister, nein. Zumindest glauben wir nicht an das, was man gemeinhin unter ›Geister‹ versteht.«
»Nun, ich glaube daran. Ein weiterer Punkt, der mich von deiner Kirche trennt.«
»Na schön. Aber warum Mithras? Warum ausgerechnet er? Wie bist du gerade auf ihn gekommen?«
»Einen Augenblick. Moment. Du denkst, ich hätte den Mithras-Kult zu meinen Männern gebracht?«
Ich antworte nicht.
Weil ich eine Antwort für überflüssig halte.
Durand lacht.
»Dieser Gott oder jener … Für mich spielt das keine Rolle«, sagt Durand. »Ich brauche keinen Gott. Ich wusste nicht einmal, wer Mithras ist. Nicht ich habe ihn hierher geholt.«
»Wer dann?«
Durand zuckt mit den Schultern.
»Finde es selbst heraus. Zeit genug hast du. Und jetzt leg dich schlafen, Priester. Wir brechen auf, sobald es draußen dunkel geworden ist.«
»Warte.«
»Was ist denn noch?«
»Die Sache mit dem ›Besprühen‹ … mit dem Totensaft oder wie ihr ihn nennt … Das kleine Versäumnis, das mich fast das Leben gekostet hätte. Hast du herausgefunden, wer dafür verantwortlich ist?«
Durand schweigt einige Sekunden. »Nein, noch nicht«, antwortet er dann. »Schlaf jetzt, John. Morgen erwartet uns ein anstrengender Tag.«
Die ganze »Nacht« flüstert und pfeift der Wind in den Ritzen und Rissen der Zuflucht 14. Mitunter scheint er mir etwas zuraunen zu wollen; ein anderes Mal wird er zu einem drohenden Zischen, das dem einer Schlange ähnelt, oder zum Knurren eines auf der Lauer liegenden Monstrums.
Wie viele Schreckensgeschichten der Vergangenheit mögen auf diese Weise entstanden sein, geschaffen von der Fantasie der Menschen, die in einer dunklen Höhle hausten, in der beruhigenden Präsenz von Artgenossen, aber voller Furcht vor der großen, unbekannten Welt dort draußen?
Tausend Gedanken gehen mir durch den Kopf.
Ich frage mich, wie weit ich diesen Männern trauen darf. Wie sicher kann ich mich fühlen bei Leuten, die eine ganze Gemeinschaft ausgelöscht haben, ohne mit der Wimper zu zucken?
Und dann die Entdeckung, dass bei der Schweizergarde heidnische Rituale durchgeführt werden … Allein das ist unglaublich. Hinzu kommt, dass es in der Nähe von Rom Stützpunkte und Vorposten gibt, von denen ich nichts wusste und die vermutlich auch der Kirche vollkommen unbekannt sind. Das ist absurd.
Und auch besorgniserregend.
Wenn diese Männer zugelassen haben, dass ich Kenntnis von gewissen Dingen erlange – was erwartet mich dann am Ende der Reise?
Ich glaube, die Antwort zu kennen.
Ein Grab ohne Namen irgendwo da draußen, inmitten der Trümmer.
Und vom Neuen Vatikan eine Lobrede zu meinem Gedenken, wenn die Mission erfolgreich ist.
Wie soll ich diesen Söldnern trauen? Wenn wir in Venedig tatsächlich den großen Schatz finden, von dem Kardinal Albani sprach … Vielleicht bringen mich Durand und seine Männer einfach um und behaupten, die Mission sei gescheitert.
Selbst wenn ich in meinem Herzen genug Mitleid oder Nächstenliebe fände, um diese Männer nicht zu verurteilen … Tatsache ist, dass ich das letzte Mitglied einer Organisation bin, die man einst Heilige Inquisition nannte. Der Kampf gegen Ketzerei und Häresie gehört zu meinen Pflichten.
Viele Gedanken. Zu viele.
Ich suche Trost in einem Gebet.
Erst sehr spät schlafe ich ein, und es ist ein unruhiger
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