Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
mehrere? Wie viele? Zehn? Zwanzig? Verdammter Idiot …«
Aber jetzt folgen wir ihm, als er durch die Gassen des alten Ortskerns eilt, bis wir schließlich einen kleinen Platz erreichen. Der Schnee ist hier grau und unberührt; Jegor hinterlässt unübersehbare Abdrücke darin, als er zur Tür einer kleinen Kirche stapft und sie öffnet.
Auf der Türschwelle bleibt er stehen und legt die Hände zu beiden Seiten an die marmornen Säulen, als müsste er sie stützen. Oder als befürchtete er, das Gleichgewicht zu verlieren und zu Boden zu sinken.
Durand schließt zu ihm auf und hat einige Mühe, Jegors Hände von den Marmorsäulen zu lösen. Zitternd weicht der Soldat beiseite und murmelt unverständliche Worte, im Tonfall eines Gebetes.
Wir betreten die Kirche.
Nichts konnte uns darauf vorbereiten, was uns erwartete. Absolut gar nichts.
In der Kirche sieht es aus wie in einem Schlachthof. Die Wände sind rot, bis zu einer Höhe von etwa anderthalb Metern. Und es liegt nicht am Licht der Dämmerung. Die Wände sind rot von Blut.
Die Kirchenbänke sind aufeinandergelegt, wie bei einem grotesken Konstruktionsspiel, und jemand hat Stricke um sie gebunden, damit sie nicht verrutschen. Sie bilden eine Pyramide, die bis zur Decke reicht, und an dieser Pyramide hängen gekreuzigt ein Dutzend Männer und Frauen. Sie sind nackt und völlig abgemagert, ihre Körper verdreht. Die weit aufgerissenen Augen berichten von Schmerz und Entsetzen. Den Männern ist der Penis abgeschnitten, den Frauen die Brüste. Die abgetrennten Teile liegen in einem Korb auf dem Altar, wie eine Opfergabe.
Noch schrecklicher sind die Kinder.
Drei Mädchen und ein Junge, zwischen sechs und zehn Jahren alt.
Vor dem Tod sind sie vergewaltigt worden.
Vor dem Tod hat man ihnen die Augen ausgestochen.
Tränen und Blut haben ihre Gesichter in Fratzen verwandelt.
Und dann hat man sie gekreuzigt. Man hat ihnen lange Nägel durch Hand- und Fußgelenke getrieben und sie an die Wand gehängt.
Bune erbricht sich auf den blutbesudelten Boden.
Durand steht im Mittelschiff und sieht sich lange Zeit an diesem Ort des Grauens um, ohne einen Ton von sich zu geben.
Dann dreht er sich um.
»Adèle …«, sagt er leise, die Stimme von der Atemmaske verzerrt. »Kannst du feststellen, wann diese Leute gestorben sind?«
»Ich kann es versuchen.«
»Gut. Dann versuch es bitte.«
Wir lassen Adèle allein in der Kirche zurück.
Jegor Bitka sitzt auf dem Boden, den Rücken an einer der beiden Marmorsäulen gelehnt, die den Eingang säumen. Er nimmt die gleiche Haltung ein, in der wir ihn auf dem Dachboden gefunden haben. Aber die Arme hängen nicht mehr schlaff herab. Er hat die Hände vors Glas der Maske gehoben und hält sich die Augen zu.
Die Schultern des Mannes beben; er schluchzt leise.
Durand zerrt Jegor auf die Beine, zieht ihn mit sich und bedeutet mir, ihm zu folgen. Wir gehen zum Hummer von Feldwebel Wenzel und steigen ein.
Durand nimmt die Maske ab. Ihre Ränder hinterlassen rote Streifen in seinem Gesicht, wie eine Tätowierung.
»Wer dies getan hat, ist auch für den Tod der jungen Frau im roten Cabrio verantwortlich. Ich dachte zuerst, dass die Bewohner dieses Ortes dahinterstecken, aber dem ist offenbar nicht so.«
Wenzel hört zu, ohne dass es in seinem Gesicht zu irgendeiner Veränderung kommt. Vielleicht würde er gern wissen, was wir in der Kirche gefunden haben, aber er ist zu diszipliniert, um Fragen zu stellen.
»Es könnte hinkommen, mehr oder weniger. Da drin sind dreizehn Erwachsene und vier Kinder. Außerdem die Frau auf der Autobahn. Wer diese Gemeinschaft ausgelöscht hat, kam von außerhalb.«
Durand denkt einige Sekunden nach und fügt hinzu: »Wir müssen herausfinden, was genau hier geschehen ist. Doktor Lombard wird uns gleich sagen können, wann die Leute gestorben sind. Es bleibt die wichtigste aller Fragen: Wenn wir ausschließen, dass die Toten Selbstmord begangen haben – wer hat sie umgebracht? Wie viele waren es? Und warum haben sie die Leute massakriert?«
Ich nehme ebenfalls die Maske ab und räuspere mich.
»Ich glaube, wir müssen hier was klären«, sage ich.
Durand dreht langsam den Kopf und sieht mich an. Seine Augen sind blutunterlaufen. Er sieht müde aus, und das gilt für uns alle. Niemand von uns hat geschlafen.
»Unsere Aufgabe besteht nicht darin, Mörder zu suchen«, betone ich.
Durand antwortet nicht.
»Wir müssen nach Venedig.«
Er nickt. »Nach Venedig«, wiederholt er und streicht sich
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