Die Zaehmung
meine Kammerfrau losgeschickt, um uns den Schlüssel zu ihrem Zimmer zu besorgen.«
Lianas Erscheinen im Burghof vorhin hatte die Betriebsamkeit dort erheblich verlangsamt; aber als nun Io und Liana zusammen über den Burghof gingen, kamen die Arbeiten dort völlig zum Erliegen, und alles stand da und starrte den beiden Frauen mit offenem Munde nach. Iolanthe allein war schon ein seltener Anblick, aber daß sie mit einer anderen Frau zusammen unten im Hof erschien, mochte man einfach nicht glauben.
Liana ignorierte die gaffenden Leute innerhalb und außerhalb der Burgmauern und führte Iolanthe zu der verschlossenen Tür über dem Söller. »Wenn sie nicht gestört werden möchte, hält sie ihre Tür verschlossen. Ich denke, wir sollten ihren Wunsch respektieren.«
Io äußerte sich nicht dazu; aber als ihre Kammerfrau mit einem dicken Schlüssel in der Hand im Flur erschien, schob sie diesen in das Schloß.
»Ich glaube nicht . . .« begann Liana, verstummte dann jedoch mitten im Satz. Das Zimmer, das einmal der einzige saubere Ort in der Burg gewesen war, war leer. Nein, nicht leer, denn sie konnte unter den Spinnweben vieler Jahre und den Exkrementen von Nagetieren die Möbel der Lady erkennen. Da war die gepolsterte Bank, auf der Liana gesessen hatte. Da war der Rahmen für den Teppich, an dem die Lady zuletzt arbeitete. Die Fenster, durch die immer helles Sonnenlicht flutete, waren zerbrochen, und ein toter Vogel lag auf dem Boden.
»Ich verstehe das nicht«, flüsterte Liana. »Wo ist sie?«
»Tot. Schon vor vielen Jahren gestorben.«
Liana bekreuzigte sich, obwohl sie dieser Feststellung sofort widersprach. »Wollt Ihr damit sagen, sie wäre ein
Gespenst? Das ist unmöglich. Ich sprach mit ihr. Sie ist so wirklich wie Ihr oder ich. Sie hat mir Dinge erzählt, die andere nicht wissen konnten.« Ihre Augen weiteten sich.
»Ich habe davon gehört. Ich habe sie nie gesehen, auch Severn sah sie nie, und ich weiß nicht, ob Rogan mit ihr zusammengetroffen ist oder nicht. Aber es gibt eine Reihe von Leuten, die mit ihr gesprochen haben. Sie scheint gern Menschen zu helfen, die in Not sind. Vor Jahren wollte sich eine Magd, die schwanger war, im Burggraben ertränken, als sie die Lady, wie Ihr sie nennt, singen und spinnen hörte. Die Lady redete ihr den Selbstmord aus. Habt Ihr Euch denn nicht gewundert, daß niemand hier in diesen Zimmern wohnte? Die Hälfte der Ritter weigerten sich sogar, in den Söller hinaufzusteigen, um dort einen von den Jagdfalken zu holen, und niemand hätte sich in dieses Stockwerk hinaufgewagt.«
Liana versuchte das alles zu verdauen. »Niemand hat mir das gesagt. Nicht einmal andeutungsweise.«
»Ich vermute, sie dachte, mit Eurer Stöberei würdet Ihr auch die Lady vertreiben. Obwohl sie nie jemandem geschadet hat. Sie gehörte gewissermaßen zu den guten Geistern.«
Liana ging durch die dicke Staubschicht, die auf den Dielen lag, zu dem Rahmen mit dem Webteppich. Es war ein altes, noch unfertiges Stück Arbeit. Liana sah, daß darauf eine Dame und ein Einhorn abgebildet war, als Liana sie zuletzt besuchte. Liana war es plötzlich so, als habe sie eine sehr teure Freundin verloren. »Wer ist sie? Und warum sucht sie die Peregrines heim?«
»Sie ist Severns Großmutter, demnach auch Rogans und Zareds Großmutter. Sie war Jane, die erste Frau des alten Giles Peregrine. Ihr Sohn war John, Severns Vater. Nachdem Jane gestorben war, heiratete Giles Peregrine
Bess Howard, und es war deren Familie, die behauptete, Jane sei nie rechtmäßig mit Giles verheiratet gewesen, und deshalb wären Janes Sohn und dessen Kinder Bastarde. Diese Burg und Bevan Castle waren im Besitz von Janes Familie; sie ist hier aufgewachsen.«
»Und so kommt sie auch als Geist hierher.«
»Etliche Jahre nach ihrem Tod war sie in diesem Zimmer, als ihr Sohn John vom Hof zurückkam, wo der König ihn für illegitim erklärt hatte. Er sperrte die Tür dieses Zimmers zu und hat sie nie mehr aufgeschlossen. Nur sie selbst sperrt sie jetzt noch auf. Einige Leute behaupten, John sei ein Narr gewesen — daß seine Mutter zu ihm gekommen sei, um ihm etwas zu sagen; er ihr aber nicht zuhören wollte.«
»Sie wollte ihm vermutlich sagen, daß er sich von den Dorfmädchen fernhalten soll«, meinte Liana nun verbittert.
»Nein«, sagte Io. »Jeder glaubte, sie wollte ihm mitteilen, wo die Pfarr-Register versteckt seien.«
»Was für Register?«
»John konnte nie beweisen, daß seine Eltern tatsächlich
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